Archiv > Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek
Zur Ideengeschichte
Die Idee einer „Kulturwissenschaftlichen Bibliothek“ gehört zu den Gründungsmotiven und -tatsachen der deutschen Kulturwissenschaft. Aby Warburg (1866-1929), der deutsch-jüdische Kunsthistoriker, Privatgelehrte und Sammler öffnete seine Bibliothek im Jahr 1909 dem interessierten Publikum unter diesem Namen im sogenannten „Warburghaus“ in der Heilwigstraße 114, Hamburg. Bei seinem Tod umfasste sie rund 60tausend Bände. Durch die Naziherrschaft wurde sie zum Exodus gezwungen; 1933 transportierte man sie nach London, wo sie bis heute an und von der Universität gepflegt wurde.
Wie alle Privatsammlungen, war auch Warburgs eigenwillig angelegt und geordnet. Begonnen ursprünglich als Begleitung durch ein kunstwissenschaftliches Studium der Renaissance, erweiterte sich sein Interesse immer mehr zu den angrenzenden Disziplinen: Literatur, Geschichte, Religion, Psychologie, Sternkunde, und so fort. Berühmt wurde er mit der Idee, das Fortleben der Antike in der Renaissance zu studieren, und zwar mit Hilfe einer Bildersammlung, dem sogenannten „Mnemosyne-Atlas“. Hier versammelte Warburg neben den üblichen Beispielen aus der hohen Kunst auch Abbildungen aller möglichen Artefakte aus der Alltagskunst, ja aus der Werbung: ein damals umstürzendes Verfahren, das aber bis heute den kulturwissenschaftlichen Ansatz inspiriert. Auch die Ordnung der Bücher entsprach nicht der damaligen bibliothekarischen Norm. Noch die Londoner Bibliothekare hielten sich an die vier Ebenen, die Warburg für den Gang der Forschung vorgesehen hatte: „Handlung“, „Orientierung“, „Wort“ und „Bild“, hießen die einschlägigen Gruppen. Ein mögliches Vorbild für diese vierfache Hermeneutik war vielleicht das, was in der Theologie seit dem 3. Jahrhundert die Lehre vom vierfachen Schriftsinn bedeutet hat, freilich eigenwillig interpretiert. „Handlung“: unter diesem Stichwort wurden Geschichtsbücher eingestellt. „Orientierung“: umfasste Philosophie, Religion, Psychologie und ähnliches. „Wort“: war auf die Literatur bezogen, „Bild“ natürlich auf die Kunst, oder besser: auf die Familie der Bilder. Auch meine hier vorgestellte Bibliothek von (nur) rund 6000 Bänden ist ein eigenwilliges Gebilde. „Kulturwissenschaftlich“ ist sie nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung und ihrem Schwerpunkt, der Geschichte der Physiognomik. Aby Warburg war zwar selber ein glänzender Physiognomiker – seine Tagebucheinträge über Freunde oder Besucher seiner Bibliothek verraten es –, aber die meisten Anhänger dieser Parawissenschaft in der Weimarer Republik waren ihm suspekt: vor allem Oswald Spengler, Ludwig Klages, Rudolf Kassner. Im Index des berühmten Tagebuchs der KWB kommt der Terminus fast nicht vor. Anders in der Londoner Warburg Library, die unter ihrem Direktor Ernst Gombrich dann doch systematisch zur Physiognomik gesammelt und publiziert hat. Trotzdem erscheint meine Bibliothek hier nicht inhaltlich, sondern nach Genres aufgeteilt, mit Ausnahme des ersten Eintrags „Sprache“. Denn ohne Sprache keine Texte, ohne Texte keine Handschriften, ohne Handschrift keine Bücher, und ohne Bücher keine Bibliothek. Unter der Rubrik „Sprache“ findet man hier also Bücher zum Werkzeugkasten der gesamten literarischen Kultur: Rhetorik, Poetik, Linguistik und vieles andere. Ansonsten ist auch diese Kleine Bibliothek in vier "Etagen" gegliedert: je drei bis vier Kategorien werden auf jeder Etage gezeigt. Auf der ersten die Essentials, die aus der Tatsache unserer Sprachlichkeit folgen: Gedichte, die Sprache und Lied noch zusammenrücken; dann aber gleich die zwei literalen Großkategorien des Buchhandels Fiction und Nonfiction, erzählende und belehrende Texte in Form von Monographien. Auf der nächsten "Etage" folgen im weiteren Sinn Medien der "Information": Wörterbücher, Nachschlagewerke und Zeitungen, die unser Wissen in kleine Einheiten unterteilen und an die Wissensentwicklung anschließen. Auf der dritten "Etage" folgen die Medien der persönlichen Kommunikation und individuellen Selbstdarstellung - Briefe und Tagebücher, Memoiren und Biographien. Auf der vierten "Etage" dann einige maßgebliche Formen der Sammlung von Wissen: Weisen der "Kollektion". Warum diese Einteilung? Sehr einfach: weil sie die Blaupause der digitalen Grundfiguren bietet. Mit Stichworten wie "amazon", "wikipedia", "facebook", "digital archive“ „whatsapp“ wird die Verwandtschaft evident: Handel und Information, Kommunikation und Gedächtnis, "Egodokument" und Datenbank sind die leitenden Ordnungssysteme des Denkens geblieben. Sich das immer wieder klar zu machen, und zwar unabhängig von den Inhalten dieser Bücher, könnte die öffentliche Weisheit befördern. Weiter zum kulturwissenschaftlichen Bibliotheks-Diskurs führt mein Essay im folgenden PDF. Das Buch als Pathosformel (als PDF zum Download) |