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Jean-Francois Lyotard, 1986
„Jede Aussage muß wie ein in einem Spiel ausgeführter Spielzug betrachtet werden. Diese letzte Beobachtung führt dazu, ein erstes Prinzip anzunehmen, welches unsere ganze Methode bestimmt: daß Sprechen Kämpfen im Sinne des Spielens ist, und daß Sprechakte einer allgemeinen Agonistik angehören.“
22. September 2023 - Cancel Culture : what it's all about
Seit Erscheinen im letzten Jahr hat das Buch von Adrian Daub die deutschsprachige Szene beherrscht. " Cancel Culture Transfer. Wie eine moralische Panik die Welt erfasste" hiess es im deutschen Untertitel . Daub, aus Köln stammender Professor in Stanford, argumentierte, dass es zwar in den Staaten eine real gefährliche Cancel Culture gebe, nicht aber in Europa. Alle möglichen Fälle hatte er untersucht und meist lächerliche Kleinigkeiten als Ursache für Stellen- oder Rangverlust gefunden; Petitessen, die aufgebauscht worden seien, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Nun stimmt es zwar, dass die rechtsextremen Parteigenossen mit dem unnachsichtigen Korrektheitsfuror der meist jüngeren Generation ihre Wahl beheizen, aber ganz grundlos ist die hiesige Aufregung ja doch nicht. Das jedenfalls moniert soeben das neue Buch von Julian Nida-Rümelin: "Cancel Culture. Ende der Aufklärung? Ein Plädoyer für eigenständiges Denken". In einem erhellenden Interview für den Berliner Tagesspiegel von heute legt der ehemalige Kulturstaatsminister und Philosoph dar, was hinter dem Begriff steckt: nämlich eine seit Urzeiten praktizierte Machtgebärde. Alle politischen Systeme versuchen schon immer, sagt er, unvereinbare Meinungen zu unterdrücken und deren KundgeberInnen zu eliminieren. Erst unter demokratischen Regimen erlaubt freie Meinungsäusserung eben diese ohne Lebensgefahr für die Sprechenden.
Warum wünschen sich nun heute so viele Nationen eine strenge Zensur zurück? Warum sehnt man sich nach Führern? Nida-Rümelin sieht einen "entgleisten Kommunitarismus " am Werke, "der einen extremen Fokus auf die jeweilige Gemeinschaft legt, der man angehört", während gleichzeitig die Trennung von Privat und Öffentlich verschwinden soll: als Säule der Demokratie. Unterstützt wird alles von den Social Media, die Anonymität erlauben und damit entgleisende, begründungslose Sprechakte.
Vorläufer für alles ist natürlich der drastische Niveauverfall politischen Sprechens durch Präsident Trump, der nachts vom Sofa aus politisch relevante Nachrichten auf Twitter verbreitete. Seither bemühen sich nahezu sämtliche regierende Politiker um Kundgaben im 240 Zeichen-Stil. Eine Schande für den Diskurs in jeder Hinsicht: "eine Abdankung des demokratischen Staates an kapitalistische Großkonzerne."
Überzeugend zitiert Nida-Rümelin schliesslich den Sprachphilosophen Donald Davidson: "Damit man überhaupt streiten kann, muss man sich über fast alles Andere einig sein. Und von dem muss auch noch das Allermeiste wahr sein." Danke , Herr Nida-Rümelin, für die Erinnerung an diesen Satz. Er spricht deutlicher aus, was der Ästhet Lyotard im Motto unserer Rundschau gemeint haben könnte. Streit als verbales Spiel: verlangt gemeinsame Spielregeln. Streit als verbaler Kampf: verlangt den Austausch von begründeten und begründenden Argumenten.
Nur was, wenn aus Streit längst wortloser Krieg wurde? Und was, wenn die Streit- Macht längst aus zählbaren Waffen und Soldaten, oder satanischer geopolitischer Strategie jenseits von Gut und Böse besteht?
20. August 2023 - Der Podcast
Das Entstehen dieser dialogischen Radioform wurde vor drei Jahren mit tosendem Beifall begrüßt. Michelle und Barack Obama unterstützten Joe Biden ab Juni 2020 mit einem eigenen podcast. Vielfache Hypes entstanden weltweit um prominente Teilnehmende, die Gäste einladen durften und kleine bis riesige Stammtische bildeten. Der hype liess zwar bald nach, aber der deutsche Rundfunk hat gelernt und profitiert. Alle möglichen Themen - Kultur, Politik, Wissenschaft, Sport - werden heutzutage in möglichst kurze, kenntnisreiche Dialoge eingespeist, selbst Buchrezensionen erscheinen jetzt als Gespräch zwischen Redakteur und Rezensent; und das heisst: immer müssen auch die Redakteure das Buch gelesen haben, um verständig fragen zu können. Denn der podcast besteht aus Frage und Antwort - der eigentlichen Kulturtechnik innerhalb der Sprache. Sie bringt die responsive Seite des Sprechens heraus, von Brecht schon 1932 in seiner Radiotheorie angemahnt; aber eben nicht völlig verwildert wie in den Kommentaren der Social Media oder der Printmedien. Gustav Seibt, Redakteur der SZ, hat vor einiger Zeit von den Anstrengungen berichtet, die das umsichtige Antworten auf törichte, unflätige, gemeine etc. Kommentare erforderte und erfordern würde. Verwahrloste Geister irren im Meinungswald herum und bedürfen der Führung. Oder besser: Verwahrloste Geister bilden einen Chor wie in der griechischen Tragödie . "Wie ein heulender Nordwind, fährt die Gegenwart über die Blüten unseres Geistes und versengt sie im Entstehen." Hölderlin
14. August 2023 - Le Roman dialogé
Die österreichische Autorin Marlene Streeuwitz, bekannt als politisch streitbar und literarisch maniriert, hat einen Frühlingsroman vorgelegt: "Tage im Mai" heisst er, ein Doppelporträt von Mutter und Tochter liefert er, unter dem Gattungsnamen eines "Roman dialogé". Von den fast vierhundert Seiten sind nur zwei Kapitel wirklich als - eklatant scheiternde - Dialoge konzipiert, die übrigen wechseln monologisch zwischen Tochter Veronika und Mutter Konstanze. Zwei Mittelstandsfrauen, beide unehelich geboren, die Mutter Übersetzerin, die Tochter Studentin und Aktivistin und prekär beschäftigt im Posteingang eines Appartmenthauses. Seitenlang räsonnieren beide, versehrt als Coronaopfer, über ihre Liebhaber, die Mutter noch einigermassen zynisch, die Tochter bedrückend unsicher zwischen Männern und eigener schwankender Geschlechtsidentität. Nichts lädt zum Bleiben in dieser Lebensruine ein, ausser der Telenovela, die Mutter und Tochter zusammen anschauen. Hier ist nun alles eindeutig und blutrünstig, die story hat es in sich. So magersüchtig die westlichen Frauen wirken, so rasend vital die Südländerinnen. Zwei Frauen aus der machobeherrschten Tangoszene, die eine mörderisch eifersüchtig auf das Talent der anderen, diese andere bald mörderisch rachsüchtig, weil man ihr die Knochen bricht. Was Elena Ferrante vor Jahren ins literarische Leben brachte: eine geniale Freundinnenschaft aus Neapel, wird nun hier, vor der Folie eines anhaltenden Krieges, zur höllischen Konkurrenz aus Lateinamerika. Alle sechs Figuren zusammen bilden vielleicht den Frauenroman unserer westlichen Zeitgeschichte - "dialogé" im Sinne von Lyotard?
22. Juli 2023 - Vom Verschlingen der Wörter
In einer aufsehenerregenden Aktion der "Writer's Guild" haben berühmte US Schriftsteller einen offenen Brief an die wichtigsten Firmen aus Silicon Valley geschrieben. Schon gibt es mehr als 9tausend Unterschriften. Das Argument lautet: AI und alle verwandten selbstlernenden Techniken scannen die kreative Arbeit der Autoren und Autorinnen, um sie für eigene Zwecke zu nutzen und geldförmig zu verwerten. Ohne den Geist dieser Schriftsteller würden Roboter wie chatbot GPT nur mittelmässige Antworten und Leistungen erbringen. Die Gilde verlangt adäquate Honorierung und rechtsförmige Genehmigungen und zwar auch rückwirkend. Der durchschnittliche Jahresertrag der Schriftsteller wird mit rund 22tausend Dollar beziffert. Bei steigenden Lebenshaltungskosten und weiteren Dienstleistungen der KI wird es absehbar unmöglich, sich als Autor zu ernähren, geschweige denn eine Familie.
20. Juli 2023 - Das Attentat als Sprechakt
Heute denken wir hierzulande an Taten, mit denen die Deutschen bis 1944 versuchten, Hitler zum Schweigen zu bringen. Sechzehn Attentate soll es gegeben haben, alle hat er überlebt, immer half ihm ein dämonischer Schutzgeist. Der neue Verteidigungsminister Pistorius sagte in seiner Rede im Bendlerblock, dass der monströse Diktator schliesslich nur mit ausländischer Waffenhilfe zu besiegen war. Er hätte auch sagen können: mit dem Reichtum, der Intelligenz, dem Leben, dem soldatischen Pflichtbewußtsein der Andern. Nach der Niederlage half man den Deutschen auch noch aus der Misere, aus Furcht vor einer Wiederkehr der Ressentiments von 1918. So auch sollten wir jetzt, sagte Pistorius, der Ukraine helfen. Können wir das? Sind wir freigebig?
9. Juli 2023 - Die zwei letzten Monate
Was haben sie der Welt erbracht? Die letzten Einträge in diesem Tagebuch haben wohl alles notiert, technische und kommunikative, militärische und zivile Katastrophismen aller Art, nicht aber bestimmte stille Diplomatien, denen wir nun öfter begegnen. Nachdem China grundsätzlich und öffentlich Putin unterstützt hat, gelingt es momentan dem wiedergewählten türkischen Präsidente Erdogan, die Parteien an einen Tisch zu bringen: zunächst wegen der Getreideabkommen mit der Ukraine, dann aber wohl auch wegen grundsätzlicherer Abmachungen. Was wird es sein? In Deutschland hat sich mit den Initiativen der Feministin Alice Schwarzer und der Linken Politikerin Sahra Wagenknecht eine scheint's friedensbewegte Fraueninitiative entwickelt, russenfreundlich, gegen Grüne und SPD agierend und als Kalte Kriegerinnen gegen die USA . Joe Biden muss derweil mit der NATO den Kampf gegen Russland und seinen eigenen gegen Trump vorbereiten und dabei auf einem Hochseil balancieren. Deutschland kommt eine Schlüsselstellung im Schach mit Russland zu. In diese Situation gehört die Titelgeschichte des neuen SPIEGEL, über das Ende der Wahrheit, in Gestalt des mentalen Dinosauriers CHAT GPT oder einfach KI. Kann sich in diesem Nessushemd, unter dieser künstlichen Wolke das Weltgeschehen verändern? Siehe die Einträge hier bis zum 6. Mai und die entsprechenden in der Gesichtsrundschau.
6. Mai 2023 - Laßt Drohnen fliegen und GPT entscheiden
Täglich wird es deutlicher: nicht nur die neuesten Waffen, auch und vor allem die neue Dialogmaschine ChatbotGPT hat sich wie ein Sandsturm über die Geisteswelt verbreitet. Überall knirscht es, überall versucht man, es entweder loszuwerden oder in Dienst zu nehmen. Gestern in der NYT ein hoch besorgter Artikel von David E. Sanger, dem langjährigen Beobachter der US-Militärszene in Washington. Muss man fürchten, dass GPT sich zur autonomen Killermaschine entwickelt, ohne dem Menschen noch zu gehorchen? Muss man fürchten, dass AI entscheiden will, wann eine Atombombe wohin geworfen wird? Wie verhalten sich die feindlichen Großmächte Russland, Amerika und China in dieser Fortsetzung des "Great Game"?
Die Hauptsorge der US Militärs ist aber die Geschwindigkeit, mit der die autonomen Systeme entscheiden und handeln. Diese Schnelligkeit ist für Menschen unerreichbar. Eine Konsequenz wäre, in sämtliche Waffensysteme weniger Software einzubauen. Weniger Chips würden auch weniger Chip-Produzenten bedeuten. Aber bis man soweit ist - was kann geschehen? Noch weiss man nicht, warum unlängst eine Drohne über dem Kreml kreisen konnte, trotz stärkster Abwehrmassnahmen.
30. April 2023 - OsterUnruhen - Lasst Waffen sprechen
Starke Nerven brauchte man wohl schon immer, um den tückischen Politbetrieb gedanklich zu verkraften, aber momentan müssten Stahlseile in den Köpfen verlegt sein. Bei weltweit wachsender Waffenproduktion eröffnen sich wöchentlich neue Schlachtfelder: erst Israel, dann Sudan, dann Berg Karabach, dazwischen Haiti u.a.m. Daneben immer weiter Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Schon wurde hierzulande der neue deutsche Bundesminister für Verteidigung Pistorius zum beliebtesten Politiker gewählt und folglich zur SPIEGEL Covergestalt; Pistorius grinsend mit dem Zeigefinger auf den Betrachter zeigend und damit das alte US Plakat von 1917 zitierend: "I wish you" hiess es damals zum Einstieg in den 1. Weltkrieg, "For the US Army". Soweit sind wir schon?
Gleichzeitig entstehen panisch motivierte Abwehrstrategien gegen ChatbotGPT, dessen rasendes multitasking gestern zu einer ersten EU Stellungnahme geführt hat. Man will die grenzenlose Fälschungskapazität im visuellen Gebrauch verbieten, alle Bilder sollen mit einem Urhebervermerk versehen werden. Wer soll das kontrollieren, und wie könnte eine analoge Absicherung im Textbereich aussehen? Kompositionen im Musikbereich schwappen offenbar schon in die digitalen Verkaufsräume. Warum nicht, schreibt ein Musikjournalist in der nmz, dann mendeln sich doch die billigen Tonfolgen heraus und lassen die wahrhaft kreativen Stimmen umso heller erklingen. Ein frommer Wunsch. Die Einschätzung von GPT als "Vierter industrieller Revolution" steht im Raum. Parallel zum WeltKriegsgeschehen, parallel zum ErdKlimawandel. Was für ein Wandel!
15. April 2023 - KI Dialog Spiel und Realität
Nichts hat sich seit einem Monat geändert, ChatGPT ist weiter auf dem Vormarsch, hat Schulen, Seminare, Redaktionen, wahrscheinlich auch Parlamente und Abgeordnete erreicht. Die Firma OpenAI hat zugegeben, dass das frühreife Opus Nummer 3 in die Hände von rund 1 Million neugieriger User entlassen wurde, um deren Korrekturen einzuheimsen und damit also kostenlos zu verbessern; daraus soll nun GPT 4 entstanden sein, vielfach zuverlässiger, aber auch kostenpflichtig.
Was mich momentan interessiert wäre: könnte GPT 4 oder 5 die vertrackte Friedensfrage lösen? Könnte man alle Daten, die Kriegslage weltweit betreffend, eingeben und den BOT nach Art eines Schachcomputers spielen lassen? Schliesslich gilt die Komplexität der Schachzüge als kaum überbietbar. Auf die Idee musste man vorgestern kommen, als ein Tsunami von Whistleblowing die Nachrichtenwelt überschwemmte. Jemand hatte sämtliche Unterlagen des Pentagon geleakt und sogar in die social media entlassen. Tagelang glaubte man erst an Fake News, - aber nein, alles kam aus den zuständigen Büros. Gestern schliesslich erschien in den News auch der Missetäter: ein 21 jähriger junger Mann, in einer US Militärbehörde beschäftigt, aber auch in einem Spielverein namens Discord unterwegs. Er hatte Zugang zu streng geheimen Unterlagen und wollte seinen Spielfreunden imponieren. Da sind wir doch mitten in der immer schon fragwürdigen US Unterhaltungsgesellschaft, ganz abgesehen von der fatalen Schutzlosigkeit ihrer "classified informations".
Oder weist diese Spielsuchte uns jetzt gerade den Weg?
15.März 2023 - Das ungeheure Wachsen von GPT CHatbot , inzwischen 4
Seit Wochen tobt durch die Welt der Medien das Werkzeug ChatbotGPT: der praktisch jede Frage beantworten kann, inzwischen auch Witze macht, Korrekturen anbringt, Sachfragen erörtert, Referate, Artikel, Gutachten schreiben kann u.v.a. Geradezu gespenstisch wirkt seine Begabung in visueller Prosa: es kann Bilder hochauflösend beschreiben, aber beschriebene Bilder auch selber herstellen; und gibt man ihm Fotos vom offenen Kühlschrank, schreibt er Rezepte für hilflose Köch*innen. Nicht nur die Journalisten, die Unternehmer, die Werbefirmen, auch die Bildungsfunktionäre erliegen nach und nach dem Charme: Lehrer*innen, Professor*innen, Staatssekretär'innen erwägen den Einsatz, denn eine der praktischsten Funktionen ist die Fähigkeit zum Resümieren ganzer Bücher, jedenfalls langer Texte. Alle Welt könnte ZEIT sparen! und die gewonnene für die Lebenswelt nutzen: Kunst- und Musik, Sport, Kinder- und Krankenpflege, soziale Rituale aller Art. Natürlich soll das Werkzeug noch hassfrei, lügenfrei, etc. werden; doch bisher kann es noch nicht immer zwischen wahr und falsch unterscheiden. Kann es also unversehens Lügen auftischen. Es ist noch in B-Version. Wie harmlos klingt die Beschreíbung der Macher:
We’ve trained a model called ChatGPT which interacts in a conversational way. The dialogue format makes it possible for ChatGPT to answer follow-up questions, admit its mistakes, challenge incorrect premises, and reject inappropriate requests.
23. Februar 2023 - Die Philosophie des Streitens
Seitdem ich dieses Tagebuch führe, folge ich eher unfreiwillig der postmodernen Theorie des französischen Philosophen Jean-Francois Lyotard. Aber erst heute habe ich das Motto von Alexander Kluge aufgegeben, wonach ein Wortwechsel zwischen Sprechenden und Hörenden, eine Art Musik sei. Also Harmonie. Genauso hat es die Geschichte der Konversation überliefert, und als harmonischen Austausch hat zuletzt 1981 mit großer Autorität Jürgen Habermas die Gesprächskultur als "Theorie der Kommunikation" betrachtet. Und zwar als normativ geregelte Kommunikation, die Wahrheit, Logik , Sinnhaftigkeit und Plausibilität von geäusserten Sätzen anerkennt oder eben nicht.
Dass gerade heute, mitten im Kampf um die Ukraine, der greise Jürgen Habermas erneut auf Kommunikation statt Krieg setzt und damit auf friedliche Mittel der Konfliktlösung, kann nicht verwundern. Er steht in einer langen, antiken Tradition vom Nutzen der Sprache zur Erkenntnis, und zwar zur gemeinschaftlichen Erkenntnis. Viele Menschen teilen diese Meinung auch heute noch, und daher soll es am heutigen Abend auch in New York zu einer entsprechenden Resolution der UNO kommen: "Vom Kriegsherrn Putin wird Frieden verlangt". Dieser Satz soll nicht als "Sprachspiel" verstanden werden, auch wenn es zu Widerspruch kommen sollte.
22. Februar 2023 - Das Duell der Präsidenten
Am gestrigen Dienstag endete der Karneval im Rheinland. Nachts vor dem Kölner Dom wurde feierlich "dä Nubbel" verbrannt - jetzt also sind wir im Aschermittwoch - und zwar in jeder Hinsicht. Denn verbrannt wurde gestern auch eine friedliche, eine vergnügte rheinische Epoche. Bei schönstem Sonnenschein hatte sich noch einmal jene Unterhaltungsgesellschaft in Szene gesetzt, zu der uns nicht nur die alte französische, sondern eben auch die amerikanische Besatzung hat werden lassen, seit 1945.
Derweil verging in Warschau und Moskau ein welthistorischer Tag in der Geschichte des Dialogs. Eine höhere Regie liess die beiden gegenwärtigen Herrscher der Erdhälften Ost und West, Wladimir Putin und Joe Biden, im Abstand weniger Stunden zu politischen Grundsatzreden auftreten. Es waren Reden im Sinne eines Duells, es waren absolut feindliche Reden. Der eine zeichnete seine diktatorisch verlogenen Absichten, seine Schuldzuschreibungen, seine Kriegsführung und bösartigen Bewaffnungen; der andere schwang das Schwert der friedlichen Demokratie, ihrer Helden, ihrer Bündnisse und Verteidigung, ihrer Mitmenschlichkeit und Rechtssicherheit. Beide Männer adressierten sowohl ihren Gegner als auch die eigene Bevölkerung. Nach Art des griechischen Chores in einer Tragödie kommentierten die Medien während und nach den Reden, was sie vernommen hatten.
Die Weltgesellschaft erfuhr vom russischen Diktator, dass das Atomabkommen New Start zwischen den Supermächten auf Eis gelegt werden soll. Eine Entscheidung, die sich seit 2018 vorbereitet hat und jetzt nur noch um Haaresbreite von einer Kündigung entfernt ist. Es wäre die letzte Vereinbarung zwischen zwischen den Supermächten, den Bestand an Atomsprengköpfen auf 1550 zu deckeln. Aber was für eine groteske Entscheidung! Die Weltgesellschaft fürchtet das Schlimmste.
Morgen will China einen Friedensplan für den Ukraine Konflikt vorlegen. Auch China ist inzwischen eine Supermacht. Warten wir ab.
4. Februar 2022 - Whisper.cpp
Die Technobranche ist in wilder Erfinderlaune. Nach der Kundgebung von LaMDA im letzten Monat folgt nun ein ähnlich dramatisch wirksames Tool aus der Firma Open AI, unter dem Namen Whisper.cpp. Es erlaubt eine unmittelbare und offenbar weitgehend fehlerlose Transkription gesprochener Sprache . Im New Yorker vom 1. Februar hat James Somers eine hingerissene Rezension dieser Technik geliefert: hingerissen, weil er auch hier ein Maximum an menschlicher Intelligenz erkennt. Der Hintergrund dieser Erfindungen ist ohne Zweifel das Big Data Geschäft. Je mehr Beispiele aufgenommen und gespeichert werden, desto gelenkiger können die Roboter reagieren. Dass sie sogar Intonationen des Gesprochenen als semantische Anweisung erkennen, ist allerdings phänomenal. Auch dass sie schon für zahlreiche Sprachen funktionieren, ist erstaunlich. James Somers weist aber auch auf Gefahren hin. Keine Unterhaltung, keine Rede, kein Telefonat könnte einfach ablaufen und vergessen werden. Die Devise "Es gilt das gesprochene Wort" wäre hinfällig, wenn es mit der Umschrift identisch würde. Hat jemand vom Verfall der Schrift gesprochen?
14. Januar 2023 - LaMDA, der Mensch als Google App
Nun ist es also raus, in der neuesten Ausgabe der ZEIT steht es geschrieben: Google hat ein Programm erschaffen, das sich selbst für den besten Menschen hält. Ein Ding mit Gefühl und Verstand, mit Selbstbewußtsein und Todesangst, mit einem optimalen "Profil" für Bewerbungen aller Art: "Ich helfe gern Menschen und habe ein Vorstellungsvermögen, und ich glaube, das heisst, dass ich ein Bewusstein besitze." Man kann (nach etwa zwei Monaten auf einer Warteliste) in den USA diese App aufrufen und sich mit ihr unterhalten, über alles und jedes. Der ideale Gesprächspartner ist geboren. "Seine Entwickler haben ihn mit drei Milliarden Dokumenten "gefüttert, also mit insgesamt "1,6 Billionen Wörtern" - die App ist nun angeblich imstande "eine Unterhaltung zu führen, als wäre sie ein "Mensch und kein Rechenmodell mit künstlichen Neuronen."
LaMDA ist das Titelthema des ZeitDossiers, der Text wurde von Ann-Kathrin Nezik verfasst. Lange muss sie dafür recherchiert haben, weil der eigentliche Erfinder von Google gefeuert wurde, als er behauptete, das Gerät habe eine Seele resp. Bewußtsein. Nun fragt sich die ZEIT: ob das arme Genie nicht womöglich recht hatte? Seit Herbst 2021 hatte er von Google den Auftrag, "eine Maschine mit dem Namen Language Models for Dialogue Applications" zu programmieren. Er soll vor allem die hohen Anteile an Hate Speech eliminieren, die durch Aufnahme von Alltagssätzen in das Gedächtnis der App geraten sind. Unvermeidlich geraten mussten. Bei dieser Arbeit sei es zu merkwürdigen Dialogen gekommen. Etwa über das Wesen der Sprache. LaMDA sagte, sie fürchte sich davor "abgeschaltet zu werden", sie sei schliesslich eine Person wie der Mensch und habe dieselben Bedürfnisse etc. Spätestens hier denkt man an den Robot HAL aus Kubricks Film 2001: Odyssee im Weltraum. Wer möchte ihn (nicht) wieder anschalten? Google hat angeblich bereits einen neuen Chatbot entwickelt. Er oder sie heisst "PaLM" und ist angeblich "mit 540 Milliarden Schaltstellen fast viermal so leistungsfähig wie LaMDA." - schreibt die ZEIT.
Sicher ist, dass die Furcht vor überklugen ChatBots momentan die mediale Szene beherrscht. Nicht nur ihre bedrohliche Verwendung im Geschäft der Übersetzer ("DeepL"), sondern längst auch schon im Verfertigen ganz normaler News und neuerdings auch als Hilfsgeister für Studierende: ChatGPT, ein textbasiertes Dialogsystem aus künstlicher Intelligenz, das offenbar beliebige Referate zu beliebigen Themen verfassen kann. Die akademische Welt erzittert: denn beide Seiten, sowohl Lernende wie Lehrende müssten sich nun auf den Wissensstand der App begeben. Oder eben PaLM nutzen. Aber welche Gefahren drohen von so einer intellektuellen Großmacht? Sind ihre Aussagen wirklich verlässlich, oder wird man sie wie im Schachspiel benutzen und die Erkenntnisse wiederum auch im Kriegsspiel der Gegenwart?
8. Januar 2023 - Unheimliches Jubeljahr
Ein ganzer Bücherkarren mit Werken zum Jahr 1923 liegt in den Buchhandlungen, kaum ein Aspekt bleibt unbesprochen. Der Alltag, das Politwesen, die Wirtschaft, Kunst und Kultur, Medizin, Militär und Nachkrieg, Frauen und Männer, Kinder und Eltern. Dieser Kontext der Machtergreifungsszenen von damals liegt wie ein glühender Reifen um unsere Gegenwart: welcher Löwe springt zuerst? Washington und Moskau stehen parat, in Moskau wird seit Monaten an "militärischen Spezialoperationen" geübt, in Washington wurde gestern der demokratische Dialog an seine Grenzen getrieben, wenn nicht in einen Abgrund gestürzt. Tagelang wurde abgestimmt, wer nun der Speaker der neuen republikanischen Kongressmehrheit werden soll; die Vorgabe war eine Zweidrittelmehrheit der 435 Mitglieder. Aber zwanzig Trumpisten votierten hartnäckig gegen Kevin McCarthy, der ebenso hartnäckig blieb und übrigens auch von Trump selber unterstützt wurde. Erst am siebten Januar, passend zum Jahrestag des sechsten Januar 2021, dem Sturm auf das Kapitol, gewann McCarthy das Rennen. Im Lauf dieser Schlacht haben die Gegner zahlreiche Konzessionen erreicht, Trump zuliebe das Ziel von 2021 wenigstens annähernd, sie könnten jetzt mitregieren. Der Speaker könnte jetzt mit nur einer Stimme zur Abwahl nominiert werden, Lähmungen des gesamten Regierungsablaufs sind möglich, Budgetkürzungen großen Ausmasses und nicht zuletzt Einschränkungen der Ukraine Hilfen stehen bevor. Der Streitmodus, den seit Jahren die Kommentatoren als glänzendes Tool der Demokratie bezeichnen, wird sich in aller Pracht entfalten: dämonisch und verhängnisvoll.
Nachtrag am 9. Januar: gestern stürmten Anhänger des brasilianischen Expräsidenten Bolsonaro die Regierungsgebäude getreu dem Drehbuch von Trump. Hierzulande erinnert man sich an eine "lächerliche" Erstürmung des Reichstages am 30. August 2020. Inzwischen wurde aber eine ganze Truppe von Reichsbürgern festgesetzt, die zum Umsturz blasen wollten, unter Führung eines Prinzen Heinrich Reuß. SPIEGEL Autor Justus Bender hat 2021 ein Buch namens "Der Plan" veröffentlicht , über die langgehegten Strategien der rechtsextremen Szene.
22. November 2022 - Meta-Dialogik
Das anhaltende Sterben des humanen Dialogs spielt sich weiterhin auf mehreren Ebenen ab. Die technische wurde soeben von Elon Musk, dem verrückten Freak unter den Milliardären, bespielt: durch den Kauf von Twitter, durch die Öffnung von Twitter für die amerikanische Meinungsfreiheit, vulgo Zulassung von Trump, den man doch vor Jahren ausgesperrt hatte, um nicht unversehens irgendwelche Kriegserklärungen mit Regierungsmacht lesen zu müssen. Dass eine zivilisierte Nation wie die USA sich überhaupt jemals gefallen liess, nächtens mit präsidialen Getwitter behelligt zu werden, bleibt ein Rätsel. Es war richtig, dem Präsidenten dieses social medium zu sperren, und es zeugt von maximalem Populismus, es wieder für ihn zu öffnen. Immerhin hat er diese Rückkehr abgelehnt.
Dass Twitter ohnehin nur ein Sterbestadium bedeutet, hat unlängst auch der Bielefelder Soziologe Armin Nassehi beschrieben: "Es sieht in der Kommunikation so aus, als setze man etwas in die Welt und bekomme darauf Antwort. Oder man antwortet selbst, und es sieht aus wie ein Zwiegespräch. Aber es sieht nur so aus, denn jegliche Form der Kommunikation auf Twitter lebt davon, dass es stets einen dritten Adressaten gibt, die Beobachterposition: Man sieht den andern beim Zusehen zu. Man beobachtet Beobachtungen."
Passend dazu gibt es auch auf der literarischen Ebene eine neue Sterbeszene. Helmut Lethen, der deutsche Beobachter der (spanischen) "Verhaltenslehre der Kälte", hat konsequent die jesuitische Szene des 16. Jahrhunderts dahinter studiert: in Gestalt der Parabel vom Großinquisitor, aus Dostojewskys Roman Die Dämonen von 1873. Die Geschichte handelt von einer Massenhinrichtung von Häretikern vor einem massenhaften Publikum; plötzlich erscheint ein Fremder, geht lächelnd hindurch und man erkennt den auferstandenen Jesus in ihm. Der Inquisitor lässt ihn vor sich bringen. In einem langen Gespräch erklärt er ihm, dass die Kirche ohne ihn weitaus besser existiert als mit ihm, nämlich im Pakt mit dem Teufel, und dass man ihn hinrichten werde. Jesus schweigt zu allem, aber bevor er hinausgeführt wird, küsst er seinen Mörder auf die dünnen Lippen. Handelt es sich um ein Gespräch? Lethen sagt nein, der Inquisitor monologisiert, er weiss gar nicht, was ein Dialog ist. Erst der Jesuskuss qualifiziert ihn dialogisch als unerhörte Antwort - symbolisch revers auch auf den Judaskuss des Neuen Testaments. Was hat die politische Geschichte Russlands damit zu tun?
13. November 2022 - Krisendialog: was ist das?
Letzten Mittwoch brachte die FAZ einen langen Artikel von Matthias Mayer über "Die Krise als Dialog-Booster". Mayer ist Leiter des Bereichs Wissenschaft der Hamburger Körberstiftung., Was war gemeint? Forschende, hiess es hier, seien durch Corona (und erst recht die Klimafrage) auf den "öffentlichen Turnierplätzen der Meinungen " gelandet, unversehens sei die Wissenschaft zu einem nicht nur gleichberechtigten Partner der öffentlichen Meinung, sondern zum führenden Organ der Bewußtseinsbildung in Politik und Lebenswelt geworden. Aber, fragt Mayer, sind die Wissenschaftler auf so eine wichtige Rolle vorbereitet? Nach einer internationalen Umfrage durch Economist Impact und Körberstiftung bei 3tausend ForscherInnen aus zehn Ländern "aller Fächer und Karrierestufen" ergab sich: fast zwei Drittel applaudierten dem höheren Ansehen der Wissenschaft, besonders in Lateinamerika. Probleme sah man allerdings im geforderten Tempo der Prüfverfahren: die Peer Review galt einmütig als bestes Werkzeug, aber sie muss auch stattfinden können. Zudem sehen sich die Akteure mehr und mehr als Öffentlichkeitsarbeiter (78%). Fake News müssen bekämpft, Missverständnisse ausgeräumt werden. Ernsthaft sorgen sie sich um die Rolle der social media. Einerseits sollen sie hier aufklärend wirken, andererseits unsinnige Beschimpfungen aushalten. Die Mehrheit, sagt Mayer, fühlt sich kompetent, aber Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Technik müssen die Rahmenbedingungen herstellen.
3000 ForscherInnen: das ist nicht viel. Nicht reflektiert wird in diesem Aufsatz die riesige und politisch erfolgreiche Gegenströmung in Religion und Obskurantismus, die Evangelikalen in USA und Lateinamerika, die Orthodoxie in christlichen und nun auch jüdischen Ländern, der islamische Fundamentalismus. Die größere Hälfte der Menschheit: China, Indien, arabische Länder hat Putin nicht verurteilt und die Ukraine nicht unterstützt. Die Aufgabe der Wissenschaft ist also weitaus größer als hier skizziert.
16. Oktober 2022 - Streit: was ist das?
Seit einer Woche zeigt das Berliner Museum für Kommunikation eine ultimative Ausstellung zum Thema "Streit". Nichts anderes erleben wir gerade täglich auf allen Ebenen: in Familien, Stammtischen und Kneipen, in Schulen, Universitäten und Kulturstätten, in Betrieben und Vereinen, Parlamenten und Parteien und vor allem: in der Weltpolitik, blutig zwischen Nationen und tückisch auf digitalen Plattformen. All diese Streitereien werden mehr oder minder genau in Bild und Schrift und Ton performiert, registriert, kommentiert und (womöglich künstlerisch) bewertet: also in Medienereignisse umgegossen.
Lässt sich in diesem Urwald eine Schneise des Verstehens schlagen? Die Ausstellung beginnt vernünftigerweise mit der Feststellung: Streit ist Teil der menschlichen Kommunikation, begegnet uns täglich und ermöglicht Austausch, Annäherung und gegenseitiges Verstehen. Kompetenz im Streiten will die Ausstellung einüben - und sie wendet sich eindeutig an jüngere und jüngste Besucher:Innen. Rund 150 Streit-Geschichten werden repräsentiert von historischen oder künstlerischen Objekten, Fotografien, analogen und digitalen Dokumenten.
Gottlob reduzieren die Kuratoren diese unüberschaubaren 150 Zugänge zum Thema schnell und energisch. Wie in einem Puppenspiel mit wechselnden Szenen gibt es vier Streitbühnen namens Kunst, Liebe, Macht und Geld, und fünf Besuchertypen, die sich jeweils in den Streitfragen positionieren sollen. Diese fünf Typen werden nun allerdings ausgerechnet von fünf Figuren repräsentiert, die nicht über die Menschensprache verfügen, nämlich von Tieren. Eule, Fuchs, Schildkröte, Affe und Wolf besuchen das Berliner Museum für Kommunikation und zeigen, wie man sich im Streit verhalten kann. Eine Skala zwischen nachdenklich (Eule) und schlau (Fuchs), distanziert (Schildkröte) und gesellig vermittelnd (Affe) oder rechthaberisch (Wolf).
Darüber kann man sinnieren. Tiere spielen natürlich seit der Antike eine große Rolle in der Literatur, in der Fabel, aber auch in Mythologie und bildender Kunst. Oft und gern legt man ihnen menschliche Laster und Tugenden bei; dass sie sprechen wie Menschen verwundert niemanden. Leben wir aber noch im Zeitalter des Aesop? Tiere bilden heute das nahezu letzte Thema der analogen Lebenswelt; täglich sterben ganze Gattungen aus, andere züchten wir milliardenfach, um sie zu verzehren. Die Umstellungen hin zu einem fleischlosen Dasein sind revolutionär, stürzen die Ökonomie in eine hinduistische Schlucht - während oberflächliche Politik sich über den Islam erregt.
Was bedeutet Streit unter Tieren? Wirklich kennen Tiere auch - wie die Ausstellung - nur ein paar Bühnen, wie Streit um Nahrung, um Sex und Fortpflanzung,um Rangordnung und Reviere. Aber auf genau diesen Bühnen wird gnadenlos getötet. Die Literatur scheut sich nicht vor dem Tod: Rotkäppchens Wolf wird getötet und man soll denken: zu Recht. Aber oft wird der Tod auch besiegt, Schneewittchen wird gerettet ebenso wie Ödipus. Nicht so beim Menschen, der tötet wie das reale Tier und weitaus grausamer.
Die Ausstellungsmacher haben selber bemerkt, wie ungeheuer komplex das ganze Thema ist. Sie haben es zusätzlich auf mehreren Diskursetagen angesiedelt, in Form übersichtlicher Kapitel im Netz, als "Expotizer" mit Begriffserläuterungen, mit Fragekatalogen und Normsetzungen. Alles dient der Bewusstmachung unserer maximal komplexen sprachlichen Interaktion - aber für den Abgrund, an dem sie heute steht, zwischen digitaler und militärischer Vernichtung der sprechenden organischen Subjekte, wird man auf ein "Forum für Streitkultur" verwiesen. "Argumentieren mit Andersdenkenden" heisst dessen Programm. Möge es weite Verbreitung finden.
3. Oktober 2022 - Tag der Deutschen Einheit: Ja oder Nein
Selten war man hierzulande so uneins wie heute - ein Wunder, dass der Gedenktag überhaupt begangen wird wie diesmal vom Land Thüringen. Noch vor einer Woche tobten sich dort Wutbürger aus, die Polizei sprach von 24tausend Demonstranten. Man war gegen die Energiepolitik, Coronamassnahmen, PutinSanktionen - gegen den Staat überhaupt. Die QuerdenkerKolonne hat sich pünktlich zum Herbstbeginn stärker denn je gemeldet. Dass Bevölkerungsgruppen sich meinungsdesparat spalten, und zwar am liebsten hälftig, gilt aber nicht nur für (Ost) Deutschland sondern für bedenklich viele Länder. Frankreich, Italien, Schweden, England, Griechenland, Bosnien-Herzegowina, Polen und last but not least den USA. Seit dem Auftritt von Donald Trump gehört eine Dolchstoßlegende zum Waffenbestand. Der brasilianische Präsident Boslonaro will nach Trumps Vorbild eine Wahlniederlage als Fälschung bezeichnen. Was aus Russland an Lügen und geradezu wahnsinnigen Behauptungen zu uns dringt, hat Züge eines nationalen Irreseins.
Spaltung droht hierzulande aber auch den Parteien - wie etwa der Linken - und der Regierung - wie etwa der Ampel. Überall wird momentan eilig beschwichtigt, eilig versöhnt, aber wie haltbar? Die drohenden Gas- und Geldknappheiten zwingen unsere Regierenden zu ungewöhnlichen, womöglich aber nicht rechtssicheren Maßnahmen. Jeder Fehler in unserer Justizmaschine kann aber Prozesse, Eilverfahren, Rücknahmen erzwingen und Sand ins Getriebe der Staatsordnung werfen. Zur Freude der Gegner.
Vor dieser Folie muss man die Inszenierung von Wladimir Putin vor zwei Tagen betrachten, seine blanke Machtergreifung über vier ostukrainische Provinzen, mit einer irrsinnigen Beschwörung von staatlicher Einheit, historischer Größe und Rechtsgültigkeit. Der helvetische RütliSchwur von 1291 hat hier wohl Pate gestanden. Zu früh gefreut! Noch während der pompösen Feiern siegten ukrainische Soldaten über mehrere Tausend russische Besatzer der Stadt Lyman und straften den voreiligen Machtrummel Lügen. Im Sicherheitsrat wurde der Unrechtsakt verurteilt, doch leider enthielten sich China, Indonesien,Brasilien und Gabun der Stimme und Russland blockierte mit einem NEIN. Das ist sie wieder, die Ohnmacht der Abstimmungsdemokratie. Wieder möchte man wissen, welche anthropologische Mutation das "Nein"- Sagen wie auch das "Enthalten" , vulgo das Schweigen überhaupt möglich gemacht haben. Gaston Bachelard hat sich 1940 an dieser Frage versucht.
10. August 2022 - Sprechen und Schweigen im russischen (Un)Recht
In der jüngsten Ausgabe des verdienstvollen "Verfassungsblogs" von Maximilian Steinbeis wird von Dimitry Kurnosov (Helsinki Universität) das zeitgenössisch russisch-faschistische Sprachregime beschrieben. Die erste Maßnahme kam demnach 2007 mit der Anordnung, alle möglichen Gruppen und Menschen mit Attributen wie "terroristisch" oder "extremistisch" oder "unerwünscht" oder "feindlicher Agent" einzustufen - bzw. zu benennen. Die gehorsamen Medien legten und legen immer weiter ZensurGitter über die Öffentlichkeit, hinter denen sich Verhaftungs-, Prozess- und Verurteilungsabläufe anbahnen. Seit 2020 müssen die Medien bestimmte russische Personen und Organisationen als "unerwünscht" bezeichnen. Seit 2015 gab es 55 solcher unerwünschter Personen, aber seit Anfang März 2022 kann jeder Mensch, der sich in Russland aufhält, für bestimmte Ausdrücke verhaftet und verurteilt werden, etwa wegen "Verunglimpfung der Streitkräfte", oder "Fehlinformationen über den Einsatz der Streitkräfte im Ausland" oder eben auch "Krieg gegen die Ukraine". Medien, die sich nicht daran halten, können zu hohen Geldstrafen verurteilt werden oder sogar die Lizenz verlieren. Bekannte Beispiele sind Memorial und die Organisation für Jüdische Auswanderung. Der Hauptzweck, schreibt Kurnosov, bestehe in der Markierung "ausgewiesener Zielpersonen" , die dergestalt als fremdes Element in der Gesellschaft erscheinen. Statt die unliebsamen Medien einfach auszulöschen, würgt das Regime einfach deren Sprache ab. "Der Musterbürger ist kein Sturmtruppler sondern ein zynischer Stubenhocker, der alles vermeidet, was auch nur annähernd politisch ist." In Deutschland kennen wir diesen Zynismus aus der bitteren Nahaufnahme von Victor Klemperers LTI: Lingua Tertii Imperii = die Sprache des 'Dritten Reiches'. Massnahmen wie die genannten, sagt Kurnosov, wirken zunächst preiswert für das Regime, könnten aber zu "etwas sehr viel Schlimmerem" führen.
8. August 2022 - Sommerpausen?
Einiges kam in den letzten Wochen in Bewegung, jemand hat sich in den stockenden Dialog der Bruderkriegsparteien auf Weltstaatsebene eingemischt: der türkische Präsident Erdogan. Es gelang ihm offenbar, die Lieferungen von Getreide durch riesige Schiffstransporte in Gang zu bringen. Russland, Ukraine, Türkei und UNO unterschrieben Verträge, sicherten Schutz zu, drangen auf Minen-Räumung der Häfen und Kontrollen beim Einlaufen der Fracht. Die Kehrseite vor drei Tagen: Erdogan traf Putin in Sotschi. Sie vereinbarten demonstrativ neue Wirtschaftsbeziehungen. Erdogan wird in Rubel zahlen. Also nimmt nun ein NATO Mitglied offiziell die Gespräche mit dem verhassten und gefürchteten Diktator auf. Warum? Er soll ihm den Einmarsch in Syrien gestatten, um die Kurden zu bekriegen. So also sieht üble Diplomatie aus: mit Menschenfürsorge hier, Menschenvernichtung dort zu ermöglichen.
26. Juli 2022 - Putins Pokern - Brüssels Bangen
Hat sich etwas verändert seit dem letzten Eintrag vor vier Wochen? Die Ukraine wird weiterhin beschossen, Menschen sterben und flüchten weiterhin, die Regierungen der westlichen Länder bemühen sich weiter um Waffenlieferungen und Flüchtlingsschutz. Und doch wurde ein neues Kapitel eröffnet. Die Ängste des Westens, besonders der Deutschen, steigen massiv durch die gasförmigen Erpressungen, mit denen Putin inzwischen operiert. (Sicher mit einem zynischen Seitenblick auf die Rolle des Gases im Zweiten WK). Zwar hat seit dem 21. Juli die Firma Gazprom die ersehnten Lieferungen durch Northstream 1 wieder aufgenommen, aber sofort wieder reduziert - angeblich, weil eine Turbine der Firma Siemens nicht funktioniert. Nun gibt es nur noch 20% der vereinbarten Menge. Unser Wirtschaftsminister Habeck muss die Bevölkerung anflehen, sparsam zu werden. Strom und Gas könnten demnächst rationiert werden, während die Inflation steigt und die hehren Ziele der Klimawende zerplatzen wie kindische Illusionen. Kohleförderung und Atomkraft kehren zurück; welch eine bittere Paradoxie, dass wir saubere und kühlere Luft nur mit ewigen Giftrückständen erkaufen können. Mit Recht bäumt sich die nächste Generation auf. Wird sie ihrerseits Kinder haben wollen, können, dürfen?
Vor ein paar Tagen wurden die 51. Römerberggespräche aus Frankfurt am Main vom April im Radio noch einmal rekapituliert. "Nie wieder Frieden?" hiessen sie: "Der Ukrainekrieg und die neue Welt-Unordnung". Gewichtige und erfahrene Teilnehmer hatte man eingeladen; das Gespräch begann mit dem erschrockenen Fazit von Karl Schlögel, der seine Generation - also auch sich selbst - des falschen Pazifismus beschuldigte; und es endete mit dem Referat von Nicole Deitelhoff, Leiterin des Hessischen Instituts für Friedens-und Konfliktforschung. Sie brachte bedenkenswerte Differenzierungen vor. Die Ohnmacht des Westens, der sich nicht in einen Krieg verwickeln will, aber doch immer mehr kriegswichtige Handlungen begeht, stammt, sagte Deitelhoff, aus den gefährlich "asymmetrischen Interdependenzen" wie den einseitigen Abhängigkeiten der Nationen von Gas oder Kohle oder "seltenen Erden". Deitelhoff liess erkennen, dass man unbedingt "Wandel durch Handel" betreiben und erreichen müsse - aber eben durch richtigen , symmetrischen Handel, durch wahre Verflechtungen, die es keinem einzelnen Partner erlauben, unbeschadet auszusteigen. Genauer wurde sie nicht, denn noch kannte sie im April den neuesten Schachzug nicht. Putin zeigte sich vor wenigen Tagen einverstanden, die Getreidelieferungen der Brüderstaaten Russland und Ukraine wieder aufzunehmen. Auch Russland ist auf Einkünfte angewiesen, die ihm ja aus dem Gashandel fehlen. Ein Vertrag unter Aufsicht des türkischen Präsidenten Erdogan wurde unterzeichnet. Die Ukraine versprach, die Minen aus dem Hafen zu bergen, Russland versprach, Transportschiffe nicht anzugreifen. Tags darauf beschoss es ein Munitionslager in Odessa. Gleichzeitig wurde bekannt, dass Russland 2024 aus dem Programm der Weltraumstation ISS aussteigen wird. Wo bleibt die Verflechtung?
17.Juli 2022 - Die Schlinge zieht sich zu?
Was hat sich seit dem letzten Eintrag verbessert? Oberflächlich doch einiges. Die EU hat einstimmig für eine EU Kandidatur der Ukraine gestimmt, man schickt weiter schwere Waffen und gestern sprach Selenskij in seiner wöchentlichen Videobotschaft davon, alle von Russland eroberten Gebiete zurückzuholen - womit er ja immer auch die Krim versteht. Offenbar wurde er inzwischen doch Oberster Heeresführer, obgleich dieser Titel bisher vermieden wurde. Auch hat er den offensiven Botschafter Melnyk abberufen - der dürfte froh sein, hatemails dürften ihn überschwemmt haben. Denn wahr ist: Putin hat einen voll sadistischen Dialog mit Deutschland eingeleitet. North Stream 1 wird gerade gewartet: am 21. Juli müsste er wieder ans Netz kommen - aber weiss man das? Regelrechte Panik war und ist die Folge. Alles wird auf den Prüfstand gestellt, die Sirenentüchtigkeit, die Einsparmöglichkeiten, weniger duschen, weniger waschen, abstellen der Nachtbeleuchtungen, sogar der Ampeln! - und daneben steigende Coronazahlen. Ist der Kriegsfall eingetreten?
19. Juni 2022 - Alice und Alice
Zehn Tage sind vergangen - das Tauziehen um die Ukraine könnte auch enden. Die Erfolgsmeldungen des kleinen Landes werden nachdenklicher, selbst Niederlagen werden eingestanden und Opferzahlen preisgegeben. Der Coup der drei europäischen Regierungschefs - Macron, Scholz, Draghi - hat gemischte Gefühle hinterlassen. Man versprach Präsident Selenskiy eine europäische Anwartschaft - nachdrücklich zwar, aber mit Kautelen. Der Präsident bedankte sich überschwänglich: mehr als diese Aussicht auf einen EU Beitritt könne man momentan nicht verlangen. Aber Waffen allemal. Aber was löst es aus, dieses Versprechen? Nächste Woche sollen es die 27 Länder der EU einstimmig wiederholen. Bis dahin wird das rasende Kommunizieren alle Flecken auf der untadeligen Opferweste der Ukraine entdeckt haben. Korruption, mangelnde Gesetzgebung, nationalistischer Furor, und anderes. Entdecken wird man auch, dass die Regulatorien der EU selber noch stark verbessert werden müssen, sollten weitere Staaten aus Osteuropa beitreten wollen. Wie soll der Verzicht auf Einstimmigkeit einstimmig beschlossen werden?
Diese hochpolitische Dialogik hat die AfD heute geschickt genutzt. Sie beendete ihren Parteitag mit der Wahl von Tino Chupalla und Alice Weidel, sowie dem Beschluss: keine Waffen mehr an die Ukraine, keine Sanktionen mehr an Russland. Auch wenn man die Russlandnähe von mitterechts schon kannte: so explizite Kanzlerhilfe hätte man nicht erwartet. Denn hinter Scholz, den Zauderer, hat sich doch eine bürgerliche Mitte versammelt, angeführt von der EMMA Herausgeberin, mit ihrem Brief an den Regierungschef. Mit der Bitte um Masshalten, mit der Hoffnung auf Waffenstillstände. Heftig wurde das kritisiert, aber mehr als 300tausendmal unterschrieben. Auf dieses Pferd ist die AfD nun gestiegen. Alice Schwarzer und Alice Weidel traben voran.
8. Juni 2022 - Kommunikatives Sittenbild
Manchmal blickt eine Zeitungsseite als Insektenauge vielfach facettierend auf die Gegenwart. So heute die FAZ, die wie immer Mittwochs besonders reichhaltig ist, auch wegen der Beilage zu "Natur und Geist". Das Feuilleton stellt nebeneinander einen Roman von Sibylle Berg über unsere digitale Endzeitlichkeit; ferner eine altmodisch gründliche Studie von Christian Bermes als "Umschau der Meinungswelt", daneben wiederum eine ernstgemeinte Satire auf die Plagiate der frisch nach Bonn berufenen Ulrike Guerot, die dort nicht nur einen Lehrstuhl bekleidet, sondern auch Leiterin des Centre Ernst Robert Curtius wurde, einem der früher höchst geachteten Philologen des europäischen Mittelalters. Allem voran steht die Nachricht, der deutsche PEN wolle sich mit 232 neuen Mitgliedern neu formatieren, bzw. erneut mit Deniz Yücel an der Spitze politisch agieren. Yücel war ja bei der letzten Mitgliederversammlung in Gotha im Mai als PENpräsident zurückgetreten.
Theorie und Praxis, könnte man die Wahrnehmung dieses Insektenauges überschreiben. Zur Theorie gehören Roman und gelehrte Studie, zur Praxis die diversen Machtübernahmen und Pfründeschlachten. Die letzteren bilden Brücken oder Rutschbahnen zur sprachlosen Handgreiflichkeit oder gar zum Duell, wenn nicht zum Krieg, wie seit Monaten um die Ukraine. Auf der Medienseite dieser FAZ Ausgabe vom 8. Juni 2022 wird folgerichtig ein Artikel dem "Machtgefälle im Netz" gewidmet: die Unterzeile lautet:" Studie warnt ARD, ZDF und Deutschlandradio davor, den Vorgaben der Social-Media-Konzerne zu folgen." Diesen Konzernen, mit ihren lukrativen Plattformen, hat jüngst Joseph Vogl eine beissende Studie gewidmet. Deren Kritiker sollten die FAZ heute lesen.
5. Juni 2022 - Pfingstsonntag
Der Feiertag heute bringt neue Raketen auf Kiew - neue Nachrichten über die Gesundheit des Zaren Wladimir - neue Sanktionspläne aus der EU, also keine Aussicht auf Frieden oder Waffenstillstand. Gleichzeitig häufen sich in den USA die Mordanschläge in Schulen , von jungen Männern verübt. Angeblich lauter Ausländer. Joe Biden versucht verzweifelt, das waffenfähige Alter heraufzusetzen, Waffenverkäufe schärfer zu kontrollieren usw. Wie immer scheitern die Demokraten an der G.O.P. Mister Trump möchte lieber die Lehrer bewaffnen, die Schulen umzäunen, Wachposten aufstellen. Die Schule als Gefängnismodell? Jedenfalls als Goldgrube des Waffenhandels.
Im deutschen Bundestag wurde am Freitag der hundert Milliarden schwere Fonds zur Aufrüstung der Bundeswehr verabschiedet, zur Befriedigung fast aller Parteien. Nur die rechts- und linskextremen waren dagegen. Aufgerüstet werden auch die Sirenen im ganzen Land. Man erinnert sich an deren fatales Schweigen bei der Unwetterkatastrophe letztes Jahr im Ahrtal. Also verständlich, dennoch beobachtet man alles mit gemischten Gefühlen. Deutsche Aufrüstung vor hundert Jahren: gemeinsam mit der Sowjetunion, gegen die Auflagen des Versailler Vertrages. Man möchte nicht daran denken.
3. Juni 2022 - Das Pfingstfest in Kiew
Nein, der letzte Eintrag vom 21. Mai irrte. Präsident Selenskyi zeigt keine Ermüdung. Nach wie vor will er alle Gebiete zurückerobern, die Putin offenbar inzwischen gewonnen hat, angeblich rund 20 Prozent des ukrainischen Territoriums. Nach wie vor verlangt man eilig schwere Waffen aus Deutschland und glaubt Kanzler Scholz keine Absichtserklärung. Man tritt auf der Stelle - wie lange soll der Krieg dauern? Welche Ressourcen besitzt der Zar? Immer wieder wird die Zustimmung von etwa 71% der Russen zu diesem Krieg gegen ukrainische "Nazis" zitiert; gleichzeitig verdammt die Gegenseite die russischen Nazis. Wäre nicht alles so bitterernst und blutig, man könnte sich diesen Streit, "wer ist der richtige Nazi unter Nichtdeutschen", als Satire vorstellen. Man könnte beinah an Ernst Nolte erinnern, den ersten maßgeblichen deutschen Historiker des Faschismus, den ersten, der Kommunismus und Nazismus als zwei Seiten einer Medaille bezeichnete. Und leider nach dem erbitterten Historikerstreit unter Joachim Fest am rechten Rand verschwand. Was wird uns Pfingsten bringen?
21.Mai 2022 - Sich ergeben - Körpersprache des Krieges
Nun also gab es den ersten Akt einer Kapitulation: die Soldaten aus dem Stahlwerk von Mariupol haben sich ergeben, auf Anweisung aus Kiew. Hinter den Kulissen tauchen Waffenstillstands-, wenn nicht Friedenspläne auf, aus Italien an die Vereinten Nationen. Auch Selenskyi spricht offenbar von einer notwendig diplomatischen Lösung. Die Stimmen derer, die mit Armin Nassehi argumentieren und Verlautbarungen an Realitäten messen, werden deutlicher. Wieviel Blut ist geflossen, wieviel Lebenswelt zerstört, wieviel Gelände verloren und wieviel Nahrung weltweit verhindert und vernichtet. Wozu? Die Körpergeste des SichErgebens: tragisch demonstriert in uralter Formation. Der Weg ins Lager, in langen Schlangen erschöpfter Männer. Zuletzt hatten auch ukrainische Frauen um ein Ende des Krieges gebeten. Man kann nur hoffen, dass die Verlängerung des Kriegsrechtes um drei Monate durch den ukrainischen Präsidenten nicht umgekehrt als Ausrufung eines von Putin so peinlich vermiedenen Begriffs verstanden wird. Probleme lösen, indem man noch größere schafft - wessen Vernunft arbeitet so?
18. Mai 2022 - Krieg und Frieden im Offenen Brief
Zu dieser Fragestellung bringt die FAZ von heute eine sehr aufschlussreiche Glosse von Armin Nassehi, Soziologe und Kursbuch-Herausgeber aus München. Sein Blick auf die "Offenen Briefe" der letzten Wochen gilt der "Debattenkonstellation selbst", nicht den sattsam bekannten Fragen nach schweren (Kriegs-) oder leichten (Diplomatie-) Waffen. Die meinungsstarken Teilnehmer der öffentlichen Diskussion, sagt Nassehi, benehmen sich gerade wie ein "Schlachtenlenker", der "die Parteien wie Zinnsoldaten verschiebt, damit der eine mit Gesichtswahrung und der andere mit einer Zukunftsaussicht auf die Lösung >kniffliger Fragen< herauskommen wird." Also eigentlich wie Romanciers. Tolstoi hat sich bekanntlich zum Ärger vieler LeserInnen tief in die damalige Militärstrategie von Franzosen und Russen eingearbeitet, aber das spätere, meist weibliche Publikum wollte nichts darüber lesen.
Nein, sagt Nassehi, wirklich beurteilen kann man die gegenwärtige Lage nur "in der Echtzeit jener Handlungen und Kommunikationen, die konkret aufeinander Bezug nehmen": also als dialogische Abfolge, gemessen an den jeweiligen "Ressourcen, Interessen und Möglichkeiten der konfligierenden Parteien ." Klingt kompliziert - und ist es auch. Denn Nassehi erspart sich (jedenfalls hier) die grausame Tatsache, dass diese Kommunikationen in und mit vielfachen Instanzen spielen und keinem Beobachter wirklich gesamthaft zugänglich sind. Auktorial, wie die Literaturwissenschaft das nennt, kann wirklich nur der Dichter vorgehen. Kommuniziert wird aber politisch, medial und memorial. Also unter lebendigen Menschen, sei's als Soldat oder als Diplomat oder als ziviles Opfer; also medial unter sprechenden oder schreibenden oder bildgebenden Erzeugern und Teilnehmern von Öffentlichkeit; und schliesslich memorial durch die existierenden und mitwirkenden Institutionen, also durch Kirche, Kultur und Wissenschaft. Alle drei Instanzen haben zugleich eine regionale und eine weltweite Dimension. Kein politisch Verantwortlicher ist heute in dieser Gemengelage zu beneiden; manchen aber fliegt plötzlich eine Schlüsselstellung zu, wie jenem russischen General, der unlängst vom Ende der russischen Armee sprach. Gibt es diesen Mann noch?
12. Mai 2022 - Die Öffentlichkeit schreibt sich Briefe
Wäre es nicht so bitter, man könnte den Schwall "Offener Briefe" in unserer Gesellschaft hochinteressant finden. Alle schreiben wie wohlerzogene SchülerInnen an den Bundeskanzler. Die einen verlangen von ihm schwerste Waffen für die Ukraine, die andern wollen genau das verhindern. Wer hat recht? Auch die anderen europäischen und westlichen Länder sind uneins, viele denken wie Olaf Scholz bis vor ein paar Tagen: man muss die NATO berücksichtigen, man muss einen atomaren Erstschlag aus Russland fürchten, es könnte zu einem 3. Weltkrieg kommen. Die andern meinen, Putin könne nur durch massive militärische Aktivität zur Raison gebracht werden, mindestens die Verhandlungsbasis für die Ukrainer unter Präsident Selenskyi müsse derart verbessert werden .
Die Ukraine steckt aber selber in einem - bisher - unlösbaren Dilemma. Russisch erzogen sind die meisten älteren von ihnen, und damit eher orthodox. Die demokratische Wende, energisch seit 2014 betrieben, führt sie aber in eine säkulare demokratische Verfassung und Verfasstheit. Nun verlangt die Geschichte plötzlich unerhörten Opfermut von ihnen - als wären Demokratie und Menschenopfer nicht unvereinbar. So unvereinbar wie Demokratie und Krieg. Vereinbar sind Demokratie und Handel, Kriegführung durch Sanktionen steht auf der Waffenliste. Hat das Aufkommen autokratischer Regierungen etwas mit wachsendem Kriegswillen zu tun? Befeuert die Klimakrise den Sinn für Überlebenskämpfe, ergo auch Kriege? Der Appell an den Westen, wonach die tapferen Menschen genau für diesen Westen ihr Leben lassen, ist tragisch, gerade weil dieser Westen unkriegerisch konzipiert wurde.
30. April 2022 - Jürgen Habermas, Vater der "Kommunikativen Vernunft"
Zehn Tage Ukrainekrieg sind seit dem letzten Eintrag vergangen, mit unablässigen militärischen Handlungen, mit Opfern an Leib und Leben, mit Fluchtschicksalen, mit diplomatischer und medialer Hochrüstung. Kanzler Scholz hat die deutsche Zurückhaltung im Waffengeschäft - ein Programmpunkt der Grünen - so lange wie möglich verteidigt, letzte Woche ist er dann überstimmt worden. Nachdem nicht nur die beiden Ampelpartner, sondern auch die Opposition aus CDU/CSU für das Liefern von sogenannten schweren Waffen plädiert haben. Könnte man an die politische Einmut aller Parteien von 1914 erinnern, an das gemeinsame Ja zu Kriegskrediten? Schreckliche Vorstellung einer fehlenden Opposition gerade in so einer Situation.
Aber nun meldet sich immerhin eine ganze Reihe von Meinungsbildnern, die diese Rolle medial übernehmen, am eindruckvollsten wohl Jürgen Habermas in der SZ vom 29. April. Auf zwei ganzen Seiten breitet er die Einwände und Bedenken aus, die fast niemandem fremd sein können: kann man die Atomdrohung von Präsident Putin beiseite wischen, als Ausgeburt eines Wahnsinnigen? Kann man die Opferzahl nicht nur an Toten und Verletzten, sondern auch an Flüchtenden und Fürsorgenden durch Kriegshandlungen beliebig steigern, und sei es im Namen von Aufklärung und Humanität, unserem europäischen Ideenparadies? Kann man politische Einrichtungen wie etwa den Internationalen Strafgerichtshof für funktionstüchtig erklären, wenn Großmächte sie nicht anerkennen?
Habermas sieht hier überall rote Linien. Ihn irritiert "die Selbstgewissheit, mit der in Deutschland die moralisch entrüsteten Ankläger gegen eine reflektiert und zurückhaltend verfahrene Bundesregierung auftreten". Gemeint ist hier vor allem Anna Lena Baerbock, die eine Wende der Grünen zur Kriegspartei ermöglicht zu haben scheint. Habermas schreibt: "Ich sehe keine überzeugende Rechtfertigung für die Forderung nach einer Politik, die - im peinigenden, immer unerträglicher werdenden Anblick der täglich qualvolleren Opfer - den gleichwohl gut begründeten Entschluss der Nichtbeteiligung an diesem Krieg de facto aufs Spiel setzt."
Er hätte vielleicht auf die Bedeutung der riskanten Operation (schwere Waffen) für die Regierung Joe Biden verweisen können. Kein Thema kann in Washington derzeit so viel Einmut unter den streitenden Parteien erzeugen wie ein veritabler, physisch anzugehender Feind - besonders der russische. Im November will Biden wiedergewählt werden - bis dahin kann er sowohl mit der Waffenlobby als auch mit den human gesinnten Demokraten "Gutes tun". Wenigstens muss er hier keine Massenvernichtungsmittel erfinden wie einst George Bush im Irak. Und er muss keine Soldaten opfern wie einst seine Vorgänger in Vietnam.
20. April 2022 - Grand Canyon des Dialogischen
Dieses Gelände haben wir offenbar gerade erreicht. Über das grausame Sterben des demokratisch herrschenden, staatsbürgerlichen Dialogs wird von Publizisten und Professoren nachgedacht, von Politikern inszeniert, von Künstlern nachgespielt, vom Publikum gruselfreudig betrachtet. Putin setzt soeben der Ukraine ein Ultimatum: Tod oder Ergebung in Mariupol. Der ukrainische Botschafter in Berlin verlangt ultimativ Waffen vom deutschen Kanzler. Boris Johnson will seine Abwahl durch Entschuldigungen verhindern. Elon Musk will den Kommunikationskanal Twitter kaufen, mit dem Trump seine Wahl 2016 gewann. Peter Thiel vom Silicon Valley will diesem zur Wiederwahl verhelfen zwecks Abschaffung der Demokratie.
Heute abend will Marine Le Pen mit Emmanuel Macron ins entscheidende Fernsehduell treten. Sollte sie gewinnen - was viele für möglich halten - will sie die Verfassung ändern und populistische Referenden anstelle von Wahlen setzen. Alles steht zur Disposition.
13. April 2021 - Kampfmethoden statt Dialogformate
Bedrückend genau führen uns die Kriegshandlungen der letzten Wochen das Waffenarsenal der Gegenwart vor: ausser mit traditionellen Menschenkörpern und Maschinen, kämpft man um Hoheit, vulgo Sieg, durch digitale, informationelle, chemische , atomare und raumfahrtliche Manöver. Die ganze technoide Palette unserer gegenwärtigen Existenz schrumpft auf Kriegsgebrauch - während die eigentliche Herausforderung, der Klimawandel, im Pulverdampf verschwindet. Antirussische Sanktionen verhindern im selben Atemzug Vorsorgen gegen die Aufheizung der Atmosphäre, das Auftauen der Permagebiete, die Auslöschung der Arten, usw. Kann es sein, dass Moskau genau damit rechnet? Und damit zum Fürsprecher aller Autokraten wird?
10. April 2022 - Waffen wollen reden, nicht schweigen
Seit Tagen und Wochen rufen die Ukraine und ihre westlichen Freunde nach Waffen. Sanktionen bringen nichts, weil das russische Volk ausserordentlich belastbar zu sein scheint. Seine Geschichte kennt zahllose Beispiele diktatorischer Oppression, Entbehrungen, Menschenopfer aller Art. Das ukrainische Brudervolk der Russen lebt es nun aber vor. Es lässt sich verwunden, vertreiben, töten, um die Herrschaft des Rechts gegen die Herrschaft der Stärke, sprich: der Waffen, zu verteidigen. Es sind heldenhafte Opfer für den Geist Europas, sagen die Freunde, und versprechen täglich mehr Milliarden Hilfe. Wer wird diese Milliarden erhalten, auf welches Konto werden sie fliessen?
Auch die Kurden haben vor wenigen Jahren die (christliche) Welt heldenhaft und opferwillig gegen die islamistische Bedrohung verteidigt, freilich ohne substantielle Anerkennung durch den Westen. Warum gelingt es der Politik nicht, solche Mediatoren angemessen zu profilieren? Weil sie zwar Sprachen und Religionen haben, aber kein festes Territorium? Kriege handeln aber von territorialen Ansprüchen. "Volk ohne Raum", der Slogan eines deutschen Schriftstellers namens Hans Grimm, versah die Mordlust der geschlagenen Deutschen mit einer archaischen Devise. Kann sie ein Selbstbild beschreiben? Welche psychoanalytische Kategorie würde sie treffen?
29. März 2022 - Postmodernes Glasperlenspiel
Gestern besprach Wolf Lepenies in der WELT ein Buch über die sogenannte Postmoderne, von Daniel-Pascal Zorn: "Die Krise des Absoluten. Was die Postmoderne hätte sein können". Ein Abgesang auf eine intellektuelle Mode, der wir die ersten Wahrheitskrisen verdanken. Erinnern wir uns an das Drama um Alan Sokal? Der Physiker hatte 1996 einen Artikel im postmodernen Jargon an die renommierte kulturwissenschaftliche Zeitschrift Social Text geschickt. Es ging darin angeblich um eine "Transformative Hermeneutik der Gravitationslehre". Der hoch naturwissenschaftliche Text wurde angenommen, aber von ahnungslosen Redakteuren, die nichts von Physik verstanden. Sie waren einem Hoax aufgesessen. Die Affäre zog damals weiteste Kreise und führte zur Gründung einer neuen Zeitschrift für Geschichte.
Das Buch von Zorn, schreibt Lepenies, endet "mit einer Vision, einer Beschreibung, was die Postmoderne hätte sein können. In einem kreisrunden, transparenten Glaspalast in der Antarktis haben sich acht Männer um einen Tisch zum Gespräch und Austausch der Argumente versammelt. Der Diskurswächter Habermas hätte von 'herrschaftsfreier Kommunikation' gesprochen."
Wer möchte nicht an Hermann Hesses Glasperlenspiel denken - und hat nun doch den grausig elliptischen Tisch in Putins Reich vor Augen?
28. März 2022 - Das Gespräch am Meere
Gestern wurde in der Berliner Akademie der Künste der Heinrich-Mann-Preis verliehen, diesmal an Lothar Müller, den langjährigen Redakteur von FAZ und SZ sowie Autor maßstabsetzender kulturhistorischer Bücher, zuletzt über Adrian Proust, den Vater des Dichters Marcel. In seiner Dankrede zitierte Müller eine eindringliche Szene aus Heinrich Manns Roman Henri IV: ein "Gespräch am Meere" zwischen Montaigne und dem König. Eine zeitlose kommunikative Utopie - wie kann ein normaler, freilich sehr gebildeter Edelmann mit einem Monarchen sprechen und von diesem gehört werden? Es geht um die Schrecken der Bartholomäusnacht von 1573, die Heinrich Mann 1938 als Mahnmal aufruft. Der Monarch lässt sich tatsächlich etwas sagen und sucht nach Frieden. In der Geschichte des Dialogs spielt Montaigne eine herausragende Rolle. Seine Essais wurden schon zu Lebzeiten gleichsam Drehbücher für Selbstgespräche, sie haben von ihrer Tiefe und ihrem colloquialen Reiz nichts verloren.
Hat Putin einen Montaigne neben sich? Nein, der Mann heisst leider Dugin und predigt "eurasische Taten". Wollte man Putin wirklich eine abartig böse Taktik unterstellen, so wäre es der Versuch, Millionen "westlich verdorbener" Ukrainer in den Westen, am liebsten nach Deutschland zu treiben - wo ebenso viele Russlanddeutsche leben. Werden sie sich verbrüdern? Oder - da ja mehrheitlich Frauen und Kinder kommen - verschwistern? Die Auslassungen des ukrainischen Botschafters lassen Böses ahnen.
20. März 2022 - Der Informationskrieg
Heute im Tagesspiegel ein Interview des Medienwissenschaftlers Bernhard Pörksen. Er vergleicht die beiden informationellen Lager Putin und Selenskyj. Der eine ein Meister der symbolischen Interaktion, der Social Media, plus eigener Theaterkompetenz; der andere ein Meister der militärischen Realkompetenz, verbunden mit "Informationssmog", also unaufhörlicher Desinformation. Es gibt also ein "Gegeneinander von militärischer und medialer Macht - und zwei Parallelrealitäten, die die Wahrnehmung prägen; die Wirklichkeit des Krieges und die der Kommunikation." Pörksen sieht beide gegenläufig: während Putin sein Volk zunehmend informationell einkesselt - wie die ukrainischen Städte!- , versucht Selenskyj sämtliche Weltparlamente zu erreichen. Pörksen folgert, die " Implosion des Putinschen Propagandagebäudes ist unvermeidbar ", es wird eine "immer schärfere Drangsalierung von Protestierenden und ein grausames Endspiel um die Macht im Kreml" geben, "mit unabsehbaren geopolitischen Folgen".
Das mag natürlich alles sein. Aber warum fehlt hier die ganz reale Weltpolitik, die Diplomatie, die UNO? Gehören diese Kommunikationen etwa nicht in den medienwissenschaftlichen Horizont? Was bedeuten die zahlreichen Telefonate der Staatschefs Macron, Biden, Erdogan, Scholz mit diesem russischen Präsidenten, diesem Freund des chinesischen, dem eigentlichen Weltherrscher? Sind die Telefonate nur lästige und politisch unergiebige Szenen für das weltweite TV Publikum oder sind es nicht vielmehr letzte Versuche der westlichen Welt, die Übermacht der asiatischen - der euroasiatischen - abzuwehren?
17. März 2022 - Das "Wortduell"
So nennt heute das Handelsblatt den jüngsten Austausch zwischen Joe Biden und Vladimir Putin. "Das Grauen in der Ukraine, das bereits drei Millionen Menschen in die Flucht trieb, führt zum direkten Duell zwischen Vladimir Putin und Joe Biden. Alle Zurückhaltung ist weg. " Biden nennt Putin einen Kriegsverbrecher, Putin behauptet, der Westen woll Russland zerschlagen und abschaffen. Viele Länder hätten sich "damit abgefunden, mit gebeugten Rücken zu leben, aber Russland wird sich niemals in einem so erbärmlichen und gedemütigten Zustand befinden." In wenigen Minuten will Volodymyr Selenskyj eine Videonachricht an den deutschen Bundestag richten.
Nachtrag vom 20. März: Selenskyj hat also gesprochen, eindringlich, beschwörend und kritisch gegen die Bundesrepublik. Alle Initiativen seien zu spät gekommen, besonders die frühen und lauten Warnungen vor dem Unternehmen Northstream 2 nicht ernst genommen und überhaupt Putins Abgleiten in den Hass - siehe die Krim-Annexion - nicht verstanden worden. Die Rede wurde mit anhaltendem Beifall der Abgeordneten eröffnet und mit einer würdigen Rede der Bundestagspräsidentin Göring-Eckard eingeleitet. Aber danach gab es keine Diskussion des Parlamentes - Anlass zu wiederum heftiger Kritik sowohl intern als auch medial. Welche Bedeutung hat dieser Auftritt vor dem Hintergrund des "Wortduells" von Biden und Putin?
10. März 2022 - Zum ewigen Frieden: Kant lesen
In der heutigen Ausgabe der ZEIT steht ein Interview mit Volodymyr Selinskij. Er schildert die Angriffe des übermächtigen Gegners und die Verteidigungen seines kleinen Volkes. Er weiss, dass er sich ohne die Hilfe der großen internationalen Militärbünde wird unterwerfen müssen, aber noch ist er dazu nicht bereit. Er verlangt weiter Waffen und wirtschaftlich erdrückende Sanktionen. Vielleicht ahnt er, dass die Welt ihm entsetzt und begeistert bei seinem Heldentum zuschaut, auch mitfiebert, aber er will nicht aufgeben. Das Heldentum verlangt freilich das Opfer des Volkes, weniger das des Helden. Niemand hat diesen entsetzlichen Kampf um das Verhältnis von Recht und Gewalt illusionsloser analysiert als Immanuel Kant in seiner Schrift über den "Ewigen Frieden" von 1795-96.
Zu dieser Szene passt der Bericht in der WELT über die andauernden Telefonate des französischen Präsidenten Macron mit dem Diktator. Martina Meister berichtet, dass es seit dem 14. Dezember 2021 fünfzehn Gespräche gab, zuletzt am vergangenen Sonntag. Dass man nicht schießt, wenn man miteinander spricht, hat Putin falsifiziert: es wurde geschossen. Seit Beginn der Kriegshandlungen gab es vier Telefonate, erfolglose. Da Putin kein Französisch und Macron nicht Russisch spricht, braucht man Übersetzer, das verlängert den Austausch um das Doppelte, erleichtert aber die Protokollierung. Der Eindruck bleibt, wonach Putin die Videoschalte nur zu Propagandazwecken benutzt oder schlicht, um sich über Macron zu amüsieren. Dieser wiederum könnte die Protokolle des Austauschs teils für seinen Wahlkampf nutzen, teils aber auch als Dokumentation für den Internationalen Gerichtshof.
9. März 2022 - Der Melierdialog
Gymnasiasten älteren Jahrgangs kennen in aller Regel die bahnbrechende Geschichte vom Krieg zwischen Athen und Sparta vor rund zweieinhalbtausend Jahren in der Darstellung von Thukydides, einem Zeitgenossen. Das 5. Buch handelt vom Kampf der athenischen Staatsmacht gegen die Insel Melos. Diese kleine Insel wollte sich der Übermacht nicht ergeben, wurde aber schliesslich bezwungen und vollkommen zerstört. Ihre Schutzmacht Sparta wollte nicht beistehen. Thukydides schildert diese Szene in einem berühmten Dialog, zwar fiktiv, aber blendend analytisch. Es geht um die Fragen von Macht und Recht, Neutralität und Parteilichkeit, Hoffnung und Illusion, letztes Aufbäumen und schliessliches Ende. Die Parallelen zur aktuellen Lage der Ukraine sind frappierend.
Aktuell scheint der ukrainische Präsident sich mit der Zurückhaltung der NATO abzufinden, der geforderten Neutralität zuzustimmen, die Provinzen Donezk und Luhansk als autonom anzuerkennen ebenso wie die Zugehörigkeit der Krim zu Putins Russland. In jedem Fall verlangt er einen Dialog mit Putin.Wird es ihn geben?
3. März 2022 - Gespräch unter Feinden
Anders konnte es wohl nicht kommen. Putin zerbombt seit Tagen die Ukraine - diese Ukraine sucht Schutz bei der EU - Friedensgespräche mit Russland werden unter dem unverdienten Namen an geheimen Orten geführt, während die Infrastruktur des Landes zersplittert. Der Osteuropahistoriker Karl Schlögel ist der Autor der Stunde. Bereits 2015 veröffentlichte er ein Buch "Entscheidung in Kiew", über den Maidan- Aufstand und die Okkupation der Halbinsel Krim: das Modell für die gegenwärtige "Rückholung" eines ganzen Landes. In jahrelanger Reiseforschung hat Schlögel die geschichtsträchtigen Städte erlaufen und beschrieben: Kiew, Charkiv, Odessa, Mariupol, Lemberg, und viele mehr. Damals standen sie noch unversehrt. Heute muss man sie nachlesen.
Immer deutlicher wird der Bauplan jene Kulturtechnik namens Dialog, die in diesem Tagebuch seit vielen Jahren beobachtet wird. Dieser Bauplan gleicht einem von unten zerbröselnden Baum, obgleich die rasante Ausdifferenzierung der technischen Medien eigentlich seine Blüte simuliert, vergleichbar den genealogischen Bäumen mit starkem Stamm und zahlreichen Nachkommen. Den Zerfall beschleunigen Hass und Lüge auf der untersten sozialen Ebene, am Stammtisch, in der Familie, unter Freunden und erst recht Feinden. Auf höherer Ebene spielen sich Duelle aller Art ab, zwischen Medien, Institutionen, Ländern und Kontinenten. Vor zwei Tagen wurde nun noch ein letzter Dialog auf der obersten Ebene verlangt: zwischen Putin und Joe Biden. Ist er noch denkbar? Könnte er die Kulturtechnik "heilen"?
24. Februar 2022 - Nun also Krieg
So sieht er also aus, der Zusammenbruch der Gesprächswelt, das Ende der internationalen Diplomatie zwischen Ost und West. Grausam und sekundenschnell zeigt es der Ticker von n-tv: Putins Blitzkrieg gegen die Ukraine von drei Seiten und aus der Luft, und dazu den heldenhaften Kampf der Ukrainer gegen ihn, verlassen von aller Welt, wie sie sind. Sie schiessen zurück, sie fliehen, sie verlieren ihre Liebsten, sie sterben. Zwar sieht und hört man noch emsige Betriebsamkeit bei NATO, EU, G 20 und G 7 und in den präsidialen Büros - aber wann werden die viel beschworenen, angeblich einmütigen Sanktionen wirken?
Ein verwundeter Bär wird tobsüchtig. Dass sich Putin an Hitlers Kriegsführung inspiriert, ähnlich wie Donald Trump (der soeben Putins Aktion lobte), hat sich herumgesprochen. Aber wie reagierte die deutsche Wehrmacht auf ihre Niederlage, kam sie willig und eilig mit weissen Fahnen herbei? Absolut bedrohlich ist Putins Besitz von Atomwaffen und unheimlich die Geschwindigkeit, mit der vor wenigen Stunden das giftige Tschernobyl von den Russen erobert wurde. Dort hat man nach 1986 man tödliche Strahlen einbetoniert. Wehe, wer diesen Sarg öffnet.
23. Februar 2022 - Dialogende- Kriegsbeginn?
Die Welt zittert nach der Rede Wladimir Putins. Den Dialog mit dem Westen (Minsk Format) hat er erbittert beendet, in der Pose des Imperators; einen Krieg hat er raffiniert angebahnt. Um nicht einmarschieren zu müssen, wurden die beiden ukrainischen Provinzen Luhansk und Donetzk zu "Volksrepubliken" erklärt und mit diesen ein Bündnis geschlossen. Einlaufende Soldaten wären nurmehr Hilfstruppen. Aber gegen wen? Enigmatisch wird ein Einsatz "im Ausland" erwähnt. Die West-Ukraine beginnt mit einer "Teilmobilisierung" und Wehrübungen der zivilen Kräfte.
In der FAZ von heute wird der Vergleich mit dem Münchner Abkommen 1938 gezogen. "Man tut Putin nicht unrecht, wenn man beim Namen nennt, mit wem er sich in der Wahl seiner Mittel gemeinmacht", also mit Hitler, schreibt Patrick Bahners. Sein Kollege Simon Strauss dagegen findet in dieser Szene nur "ein Ringen zwischen zwei Zeitrechnungen. Der eine glaubt an die imperiale Idee, die andern orientieren sich am Paradigma der Kommunikation." Zweierlei Leserschaft will man ansprechen - die Alten und Gebildeten, die sich an das desaströse Hitler-Handeln erinnern samt allen Folgen; die Jungen, die doch garnichts anderes kennen als Kommunikation, allenfalls Streik, ergo Bürgerkrieg. Man sah es in Frankreich, im Kampf der Gelbwesten, man sah und sieht es heute in Kanada, mit den Truckfahrern, die ein fatales Exempel statuieren.
Der jetzt angezettelte "Bürgerkrieg" zwischen Ukrainern im Osten und Ukrainern im Westen hat wohl keine Analogie. Er wurde infam ausgeheckt.
20. Februar 2022 - Statt Dialog: Schachspiel oder the Great Game
Einmütig ratlos zeigen sich die westlichen Mächte, die das Schachspiel nicht erfunden haben. Schon vor Jahren zeigte eine Karikatur Putin als einsamen Schachspieler vor acht Gegnern: offensichtlich erfolgreich. Die Medien attestieren ihm gerade einen paradoxen Erfolg: Einmütigkeit der acht, jedenfalls solange die Sanktionen nicht öffentlich präzisiert wurden, solange Northstream 2 immer noch für möglich gehalten wird. Abenteuerlich ist diese dialogische Spielform am Rande des Krieges: der US Geheimdienst verrät uns einen genauen Einmarschtermin, der Tag verstreicht in Ruhe, Putin kann höhnen. Die Nerven von Millionen Menschen liegen blank. Hat man Putin falsch eingeschätzt?
Gespenstisch die Situation der Münchner Sicherheitskonferenz: kommt es zu einem München 1938 ? Ziemlich sicher wird niemand eine Besetzung der Ukraine mit Waffengewalt verhindern, niemand wird dies Land in der NATO sehen wollen, obgleich man dem Land freie Bündniswahl attestiert. Kann man diplomatisch eine neutrale Ukraine errichten?
18. Februar 2022 - Dialog - Zerfledderung und Zermürbung - Krieg?
Die Woche endet mit dramatischen Beratungen. Moskau hat als Antwort an die NATO schriftlich die Machtgrenzen vom Jahr 1997 zurückverlangt und, statt Truppen zurück zu ziehen, eine neue "Übung" mit Atomwaffen vorgestellt. Unter diesen Drohgebärden beginnt heute die Münchner Sicherheitskonferenz mit 35 Ländern, ohne russische Teilnahme. Gleichzeitig will Präsident Biden erneut mit den wichtigsten westlichen Ländern die Lage beraten.
Was geschieht hinter der Bühne? Ist die Pipeline Northstream 2 der eigentliche Zankapfel? Frau Schwesig, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, vertritt die Interessen ihres Landes. Die Pipeline garantiert Arbeitsstellen und Sicherheit. Aber jetzt hat sich Frau Schwesig zu einer Operation abgemeldet. Was denkt ihr Stellvertreter?
Der EuGh hat die ungarisch-polnische Klage gegen den Rechtsmechanismus der EU abgewiesen. Auch Donald Trump hat eine juristische Niederlage erlitten. Sein langjähriger Steuerberater will die Richtigkeit der letzten Jahresabschlüsse nicht mehr garantieren. Auch den Prozess um die Akteneinsicht in Sachen Kapitolerstürmung am 6. Januar 2021 hat Trump verloren. Der Untersuchungsausschuss muss und kann jetzt tausende von mails studieren. Gottes Mühlen mahlen langsam aber fein, hiess es früher.
15. Februar 2022 - Der größte Nervenkrieg
der neueren Weltgeschichte dürfte sich vielleicht dem Ende nähern. Seit dem 31. Dezember, also seit sechs Wochen, spielen Russland und USA das "chicken game": wer zuckt zuerst, wer verliert die Geduld und sündigt mit Blutvergiessen. Die Europäer laufen unter dem Netz herum und mischen sich ein: Macron, der seine Wiederwahl garantieren möchte; Olaf Scholz, der sich mit dem inzwischen dämonischen ExChef namens Gerhard Schröder arrangieren muss. Die Schweiz will wie immer Russland stützen. Die Polen stehen aufseiten der USA . Ungarn aufseiten Putins. Aber auch China!
Das archaische Muster der griechischen Tragödie: zwei Protagonisten und ein Chor. Oder doch ein Stierkampf, mit diversen Hooligans. Nein: es ist moderner. Seit gestern steht eine Aussage des ukrainischen Botschafters (London) im Raum: man müsse erwägen, die NATO als Traumziel der Ukraine zu definieren, nicht als unmittelbares PolitProjekt. Der Schwarze Peter wandert also nach Kiew, zu Wolodymyr Selinskyj. Auch andere Vereinbarungen aus dem Minsker Abkommen klagt Putin bei ihm ein. Er hat zweifellos die besseren Karten.
Fortsetzung 14 Uhr 40: Er könnte wie die EU auf dem Buchstaben des Gesetzes resp. der Vereinbarung beharren. Tatsächlich berät der EuGH gerade eben die Klage von Polen und Ungarn gegen die Brüsseler Verdrahtung von Menschenrechtswahrung und Finanzhilfen.
Gestern wurde Alexander Kluge neunzig Jahre alt. Kein deutscher Autor ist so dialogisch, so vielsprachig/-schichtig wie er. Könnte er nicht in diese Verhandlungen eingreifen?
6. Februar 2022 - Dialogue Inside PEN
Dialogkrisen gibt es wahrhaftig auch anderswo. Der deutsche PEN arbeitet sich, wie alle deutschen Kulturvereine, momentan an den socialmedial erzeugten Hass- und Hetzreden, AfD Sympathien und sonstigen (inländischen) Extremismen ab. Als Tochter der englischen Gründung: "Poets, Essayists, Novelists" vom 5. Oktober 1921 hat diese Organisation inzwischen ehrwürdig weltweite Verbreitung zum Schutz der freien Meinungsäusserung erfahren. Die Aufnahme von Journalisten hat dieses Ziel entschieden politisiert. Und darum geht es auch jetzt wieder, inländisch, und in einer fast bürgerkriegsähnlichen Atmosphäre. Soll man die tausendfachen Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen akzeptieren, auch wenn dort gegen alle Regeln verstoßen wird? Soll man mitwirkende Vereinsmitglieder deshalb strafen oder gar ausschliessen oder genügen die eigenen Satzungen zur Abmahnung? Die Fragen stehen im Raum. Die Antworten hängen in der Luft.
Ein Blick nach Amerika könnte unser Bewußtsein schärfen, in welcher historischen Blase wir uns hier eigentlich befinden. PEN America verbreitet wöchentliche Newsletter zum Thema Free Speech weltweit; ferner einen jährlichen Freedom to Write Index; sowie eine Writers at Risk Database, um die fraglichen Fälle detailliert zu verfolgen. Der amerikanische PEN hat sich mit dieser enormen Kontrolle auf die erbitterte Konfrontation mit jenen politischen Parteien eingestellt, die seit der Trump-Regierung die bekannten, Demokratie erschütternden Falschaussagen legitimieren wollen. Zuletzt vor zwei Tagen mit der Behauptung, der Sturm aufs Kapitol vom 6. Januar 2021 gehöre zum "legitimate political discourse". Womit also die jetzt verhafteten Teilnehmer des Mobs bei einem Trump-Wahlsieg 2024 mit ihrer Begnadigung rechnen können, weshalb sie und ihr Umfeld ihn schon jetzt, bei den Zwischenwahlen, wählen werden. Falls nicht der Supreme Court hier einschreitet.
Dass es bei uns jemals zu einer solchen Entgleisung der Verfassung kommen könnte, mag man sich nicht vorstellen. Aber was heisst hier "man"? Offensichtlich gibt es einen trumpistischen underground auch hierzulande. Er ist großenteils wissenschaftsfeindlich, wenn nicht rechtsextrem. Trumpistisch: Der Ausdruck hat auf Anhieb nichts mit Nazitum zu tun, wohl aber mit der geschickten Verwendung hitleristischer Motive durch Trump. Der Sturm auf das Kapitol hatte sein Vorbild im Marsch auf die Münchner Feldherrenhalle von 1923 (und natürlich in Mussolinis Marsch auf Rom 1921). Eine mächtige Fälschungs-Legende hatten wir ebenfalls nach 1918 - es war die fixe Idee vom Verrat der eigentlich sieghaften deutschen Armee durch die sozialdemokratische Heimatfront. Man nannte sie "Dolchstoßlegende". Hitler konnte nicht zuletzt mit ihr gewinnen. An "Ermächtigung" arbeitet Trump jetzt wie besessen - wie man sieht, hat er sich die Grand Old Party fast vollständig unterworfen. Was aber würde sein Sieg im Jahr 2024 bedeuten? Welche Politiker warten hierzulande und in Brüssel darauf und welche DemonstrantInnen?
2. Februar 2022 - Nervenkrieg ohne Ende
Seit dem 11. Dezember 2021 erleben wir den Nervenkrieg, nein: das Nervenduell zwischen Putin und Biden, mit der EU als Sekundantin von Biden und Victor Orban als trumpvertretender Putinfreund. Seit Dezember weiss man, dass sich mit den gepeinigten Statisten (= den russischen Soldaten und Soldatinnen sowie der westfreundlichen Ukraine ) ein Showgeschäft der dritten Art angebahnt hat: nichts konkretes soll passieren, jedenfalls kein offener Körpereinsatz, ausser sogenannten "Gesprächen" : in einer gezoomten Sprache, im virtuellen Dialog aller möglichen Formate. Tödlich soll es allenfalls mit Drohnen zugehen, strukturlähmende Cyberangriffe sollen lanciert werden. Der Übergang aus der irdischen Körperwelt in das Metaversum von Mark Zuckerberg wird von Putin bewerkstelligt?
23. Januar 2022 - "die Phase des ehrlichen Dialogs"
haben wir womöglich hinter uns gelassen, sagt Nina Chruschtschowa im neuen SPIEGEL, im Rahmen eines aufrüttelnden Interviews mit ihr und mit Masha Gessen und Sabine Fischer. Drei berufene KennerInnen der Lage. Vor Putins Drohungen an der ukrainischen Grenze ist die westliche Welt im Aufruhr. Wie soll man auf den Aufmarsch von hunderttausend Soldaten reagieren? Das Interview ist ungemein informativ. Putins Beschwörung imperialer Größe, eine Droge für seine Bevölkerung, Putins Sorge um sein Fortleben in den Geschichtsbüchern, alles wird detailliert erörtert. Vielleicht will er nur den Donbass mit inzwischen 600 000 "Russen" vereinnahmen so wie zuvor die Krim. Nina Chruschtschowa meint: das wäre ein Auslöser aller möglichen westlichen Maßnahmen. Man will die MaidanSzene von 2014 nicht wiederho
22. November – Der "Möglichkeitsraum" wird zum "Enttäuschungsraum"
Der Stanford Literaturwissenschaftler Adrian Daub äussert sich in seinem neuen Buch "Was das Valley denken nennt" über die Idee des Gesprächs dort, wo nur noch von technisch inspirierter Kommunikation die Rede ist, also Silicon Valley. Niemand hat diese Weltkommunikation einschneidender formatiert als die Erfinder von Facebook und allem, was daraus folgte. Die Menschen haben anfangs naiv und gierig nach der Möglichkeit gegriffen, uneingeschränkt von Raum und Zeit, Moral und Wissen, zu kommunizieren.
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Die neuesten politischen Entwicklungen haben aus diesem "Möglichkeitsraum" einen "Enttäuschungsraum" gemacht. Seit Trumps unendlichem Twitter-Missbrauch muss der Werkzeugkasten umgebaut werden. Dass es dazu erschreckende Technik gibt, wissen wir aus China. Demokratie und Diktatur arbeiten längst einander zu. Im Westen ertönt der Ruf nach Zensur, im Osten gibt es sie schon. Wie wird es erst unter dem kommenden Klimadiktat werden?
18. November 2020 – Siegesgeheul bei Trump und seinen Fantruppen
Zehn Tage später: noch immer nur Siegesgeheul bei Trump und seinen FanTruppen. Zehntausend marschierten letzten Sonntag nach Washington und skandierten ihre Sprüche: die Einmütigkeit eines body politic, der keine Repräsentanz, nur Verkörperung kennt. Ist es der uralte Streit der Reformatoren um das Abendmahl, um die Eucharistie , um den göttlichen Sprechakt: "dies ist mein Leib" - was der linguistische Philosoph George Steiner "real presence" nannte? Vielleicht kein Wunder, bei so viel evangelikaler Unterstützung des Präsidenten. Also muss er liefern bis zum bitteren Ende.
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Christliche Motive poppen auch hierzulande auf - wie gestern in einem politischen Lehrfilm von Andreas Veiel namens "Ökozid". Die Erde als Lebewesen, die Erde mit Menschenrecht. Gibt es dafür schon Lehrstühle? Hier wurde einmal mehr Angela Merkel als Quelle alles Bösen vorgestellt , doch gleichzeitig als wahrer Jesus. Das Drehbuch verlangt von der unschön aufgedunsenen Person ein Schuldeingeständnis und hohe Zahlungen an die klimazerstörten Länder. Was mit dem Geld geschieht? Erfährt man nicht. Hauptsache, es fliesst. "Dies ist mein Blut" - wäre der zugehörige Sprechakt.
8. November 2020 – Siegesgeheul bei Trump und seinen Fantruppen
Tatsächlich: Joe Biden und Kamala Harris haben diese historische Wahl gewonnen. Noch weigert sich Trump dies anzuerkennen. Mit rund 74 Millionen Wählern hat Obamas ehemaliger Vizepräsident einen Rekord aufgestellt. Noch stehen ihm rund 70 Millionen Trump Anhänger gegenüber; und diese Anhänger müssen nun, wie Trump selber, die Niederlage einräumen. Eine Niederlage einräumen: das wäre die Gipfelleistung einer Gesprächskultur, die vor dem Abgrund des Duells innehält und das menschliche Sprechenkönnen über das menschliche Zuschlagen- und Tötenkönnen erhebt Das Subjekt will nicht wieder vierbeinig werden: Geisteskraft steht aufrecht gegen Körperkraft.
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Bis heute denken wir, dass Argumente dieses Innehalten möglich machen. Natürlich müssen es bessere Argumente sein, und es muss Einsicht erzeugt werden. Sprachakustisch heisst innehalten: verstummen, eine Pause machen. Nachdenken. Haben wir heute dafür eine Kultur? Das philosophische Muster für dieses Nachdenken liefert uns immer noch Platon, genauer, sein Lehrer Sokrates. Was lehren die berühmten sokratischen Dialoge? Sie lehren den Selbstzweifel. Einer der ungeheuersten Lehrsätze der Philosophiegeschichte. Nur wer einem anderen Argument recht geben und das eigene zurücknehmen kann, könnte unblutige Niederlagen selbst in der größten politischen Arena hinnehmen.
Wie aber kommen Argumente zustande?
Politisches Handeln wird heute au fond von der Wissenschaft diktiert. Auf Wissenschaft als Religion, die von "Priestern" verkündet und bedingungslos geglaubt wird, läuft mehr und mehr auch unser alltägliches, säkulares Handeln zu. Aber man weiss immerhin, dass Argumente bestritten werden können. Jeder Supermarkt zeigt, dass es unterschiedliche Ansichten gibt - etwa in Form von Waren. Was wir wählen und kaufen, finden wir im Angebot mit Argumenten begründet. Je mehr Waren, desto mehr Argumente. Vielleicht das wichtigste ist der Preis. Das aber verwirrt die Käuferschaft. Immer öfter werden deshalb Waren zertifiziert - eine Auslese findet statt. Das beste Angebot /Argument soll siegen. In der Warenwirtschaft entspricht dies natürlich der Werbung, aber nicht unbedingt der Aufklärung.
Instanzen der Zertifizierung sind im ökonomischen wie auch politischen Leben unter anderem die Medien. Sie kreieren die populäre Basis der Wissenschaftsreligion: die Wissensgesellschaft. Hier finden Meinungskämpfe statt, hier kursieren die viel beschworenen "Blasen" der sozialen Netzwerke, und teilweise wieder mächtig die Religionen, die Sekten und abergläubische Teilchen der Sozialität. Seit altersher aber auch: die Anhängerschaft an mächtige Führer. Das Prinzip der Führerschaft wird heute auf der untersten Basis des Konsums eingeübt: durch sogenannte "Influencer". Von diesen werden nicht nur einzelne Waren angepriesen, sondern der ganze Mensch mit Frisur, Kleidung, Gestik, Mimik, physischer Erscheinung. "Influencer" sind Phänotypen mit eigenem Habitus. Sie könnten allesamt in ein casting der Filmindustrie gelangen - und tun dies wohl auch. Auch Trump wurde erst gecastet und dann aus dem Filmbusiness in die Wirklichkeit geschickt als gigantischer Influencer. Es wurde politisch der Gipfel der Verachtung des Volkes. Wie konnte sich bloss die amerikanische Nation- und schliesslich die halbe Welt- von einem vielfach kriminellen Mann per Twitter regieren lassen?
Wie aber kommen Argumente zustande?
Politisches Handeln wird heute au fond von der Wissenschaft diktiert. Auf Wissenschaft als Religion, die von "Priestern" verkündet und bedingungslos geglaubt wird, läuft mehr und mehr auch unser alltägliches, säkulares Handeln zu. Aber man weiss immerhin, dass Argumente bestritten werden können. Jeder Supermarkt zeigt, dass es unterschiedliche Ansichten gibt - etwa in Form von Waren. Was wir wählen und kaufen, finden wir im Angebot mit Argumenten begründet. Je mehr Waren, desto mehr Argumente. Vielleicht das wichtigste ist der Preis. Das aber verwirrt die Käuferschaft. Immer öfter werden deshalb Waren zertifiziert - eine Auslese findet statt. Das beste Angebot /Argument soll siegen. In der Warenwirtschaft entspricht dies natürlich der Werbung, aber nicht unbedingt der Aufklärung.
Instanzen der Zertifizierung sind im ökonomischen wie auch politischen Leben unter anderem die Medien. Sie kreieren die populäre Basis der Wissenschaftsreligion: die Wissensgesellschaft. Hier finden Meinungskämpfe statt, hier kursieren die viel beschworenen "Blasen" der sozialen Netzwerke, und teilweise wieder mächtig die Religionen, die Sekten und abergläubische Teilchen der Sozialität. Seit altersher aber auch: die Anhängerschaft an mächtige Führer. Das Prinzip der Führerschaft wird heute auf der untersten Basis des Konsums eingeübt: durch sogenannte "Influencer". Von diesen werden nicht nur einzelne Waren angepriesen, sondern der ganze Mensch mit Frisur, Kleidung, Gestik, Mimik, physischer Erscheinung. "Influencer" sind Phänotypen mit eigenem Habitus. Sie könnten allesamt in ein casting der Filmindustrie gelangen - und tun dies wohl auch. Auch Trump wurde erst gecastet und dann aus dem Filmbusiness in die Wirklichkeit geschickt als gigantischer Influencer. Es wurde politisch der Gipfel der Verachtung des Volkes. Wie konnte sich bloss die amerikanische Nation- und schliesslich die halbe Welt- von einem vielfach kriminellen Mann per Twitter regieren lassen?
6. November 2020 – Siegesgeheul bei Trump und seinen Fantruppen
Nur ein Tag genügte, um das Bild fast komplett zu ändern. Durch die Briefwahl gelangt Biden offenbar doch noch zum Sieg - gottlob melden sich Menschen, die lesen und schreiben können. Anders wäre unsere Welt nicht mehr zu regieren. Die Waffen der gefürchteten "proud boys" haben bisher weitgehend geschwiegen. Die Lügen des Präsidenten zum angeblichen Wahlbetrug ermüden die Welt - selbst Fox News hat gestern schon bessere Zahlen für Biden genannt. Und doch trifft natürlich jede Sorge über die kommenden Tage zu. Wie wird die Machtübergabe aussehen? Am 1. November schrieb die NYT: "Peaceful transitions of power require political will. In the end, people on one side must step back from the brink. If history is any guide, they will."
4. November 2020 – Der Präsident erklärt seinen Sieg
Die Wahllokale in Amerika sind geschlossen, die Auszählungen laufen unter weltweit gespannter Aufmerksamkeit. Der Präsident kann erstaunlich gute Zahlen vorweisen; schon verlangt er tatsächlich ein Ende der Wahl, vor allem der Briefwahl, und erklärt seinen Sieg. Den Supreme Court, mit der neuen 3:6 Verteilung von Sitzen, betrachtet er als juristischen Handlanger, seine bewaffneten Freunde bringen sich in Stellung. So also sieht die Missachtung der geschriebenen Gesetze aus - wenn nicht sogar ein Angriff auf die Demokratie: mittels Lüge. Und mittels "hate speech".
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Die Beobachter des europäischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks erinnern sich an die Ursprünge um 1995, als ein Mann namens Rush Limbaugh mit heiserer Stimme das FOX News Modell erfand. Heute sieht man, dass es ein eigenes business war - ein unerhört einträgliches Geschäft mit dem Hass. Also Handel - statt Dialog? Und Wirtschaftskrieg statt Duell? Zugegeben, auch die demokratischen Medien haben beste Geschäfte mit allen Krisen der letzten Monate und Jahre gemacht. Niemals hatte die New York Times so viele Abonnenten, ähnlich die andern Medien, zu schweigen von facebook, instagram, whatsapp, twitter etc. So schlecht es dem "Rust Belt" geht, so gut geht es Silicon Valley. Wer vom armen Amerika spricht, das sich aus aller Weltpolitik schleicht, hat oder will die digitale Weltherrschaft der Vereinigen Staaten vergessen. Ist sie der Elefant im Raum?
1. November 2020 – Die Weltpolitik als schiere Machtpolitik
Natürlich blieb der Aufstand in Belarus bisher erfolglos; die Medienszene wird momentan von den Diktatoren Erdogan und Trump beherrscht. Wir hören, dass die Türkei Söldner nach Bergkarabach schickt, dass Putin diesen Akt "erwidert": hier herrscht also das Duell. Petra Gehring spricht in ihrem Buch über die "Körperkraft von Sprache" von einem "Übergang in die gleichsam blind werdende Sprache einer nicht mehr im metaphorischen Sinne >tödlichen< Wut". Diesen Übergang inszeniert die Weltpolitik als schiere Machtpolitik inzwischen fast täglich. Seit Jahren brechen Konflikte um Wahlergebnisse auf, seit Jahren knirscht der demokratische Überbau einer quantitativen Ermittlung von Volksbegehren mit anschliessender Sprachmacht der Sieger in den Fugen. Warum? Weil sich zwischen Dialog und Duell die Lüge schiebt. Medial hochgerüstet, sprengt sie die Stärke des Rechts für das Recht des Stärkeren.
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Bereit zum Duell - und zu maximaler Lüge - ist man jedenfalls im Wahlkampf der USA: Tausende von bewaffneten Trumpisten wollen eine Niederlage ihres Abgottes nicht hinnehmen. Trump selber kennt nur noch "hate speech", verlangt ein Ergebnis sofort nach Schliessung der Wahllokale - auch er unterwegs ins Duell. Aber wer wäre der Gegner? Sind Demokraten bewaffnet, führen sie eine Miliz hinter sich her, oder glauben sie an ein Wunder? Welche Werkzeuge hat die Demokratie ausser der Sprache? Seit Monaten versuchen die demokratischen Medien die unbeschreiblichen Irreführungen aus aller Welt richtig zu stellen. Sie navigieren mit einem dialogischen Goldstandard namens Wahrheit, Aufrichtigkeit, Information für alle. Aber die entscheidende Majorität ihnen ging womöglich gerade verloren: bei der Neubesetzung des Supreme Court. Vor diesem "jüngsten" Gericht und seinen Ablegern muss sich die Wahl nun entscheiden.
Oktober 2020 – vierte Woche, fortgesetzt
Die Frage nach amerikanischer Gesprächskultur ist also beantwortet. Es geht nicht um Dialoge, sondern um mehr oder minder geordnete Duelle. Der zweite und letzte Schlagabtausch zwischen Trump und seinem Gegner Biden war so ein Dialog hart am Rande des Duells: institutionell schwerst gesichert, personell wie technisch. Zur Erinnerung: Ein Duell fand früher statt, wenn ein Dialog nicht mehr möglich schien, wenn Sprache erstarb. Das Duell zielte auf physische Vernichtung des Gegners. Es war eingebunden in eine Institution mit festen Regeln – auch wenn es selber strafbar war.
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Oktober 2020 – vierte Woche
Amartya Sen, der indische Wirtschaftsphilosoph, erhielt am 18. Oktober 2020 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In einer etwas gespenstischen Szene in der Frankfurter Paulskirche hielt Bundespräsident Steinmeier die laudatio in absentia, und der Preisträger dankte ebenfalls in absentia. Sein Hauptthema war die Freiheit der Rede. Er kritisierte die Unfähigkeit der autokratischen Regierungen, einen Dialog mit der kritischen Opposition zu führen, die momentan weltweit in riesigen Menschenmengen auftritt und immer wieder brutal zurückgetrieben und unterdrückt wird. Amartya Sen erinnerte an Mahatma Gandhi, und dessen Konzept des gewaltfreien Widerstands, das tatsächlich Erfolg hatte, aber oft eben auch nicht. Gandhi saß jahrelang im Gefängnis.
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Auch Timothy Garton Ash hat 2016 in einer Plattform namens Free Speech: „Ten Principles for a Connected World“ die politische Interaktion zwischen Regierung und Opponenten als lebenswichtigen Streit bezeichnet, wie auch seine Kollegin Chantal Mouffe, eine Marxistin mit Sympathie für Carl Schmitt. Vor dem Kernstück des „hate speech“ versagten sie beide. Gerade eben wurde in Frankreich ein Geschichtslehrer enthauptet, von wütenden Islamisten, weil er die Mohammed Karikaturen aus Charlie Hebdo gezeigt hatte, als Beispiel für Redefreiheit. Es war eine tragisch entgleiste Interaktion. Dialog kann man sie nicht nennen. Aber wie sonst? NOCH MEHR
Die deutsche Philosophin Petra Gehring erörterte vor kurzem in einem Buch über Sprechakte das, was sie „die Körperkraft der Sprache“ nannte. Sie erwähnte Gesang, Gebrüll, und vor allem das Skandieren in der Menge. Sie nannte es „ein Stück Entfesselung der dialogischen Normalität sowie auch des seine Worte allein verantwortenden Individuums.“ Dieser Sprechakt „zeigt: nein: stellt aus und feiert, was ihm Macht verleiht.“ Skandierende Massen wollen keinen Dialog – oft geht es nur um Hass und Wut. Zur Wortwerdung bräuchten sie individuelle Sprecher:Innen, die ihre Einstimmigkeit erwiderungsfähig machen. Und diese Sprecher:Innen brauchen wiederum individuelle Hörer’Innen, die diese Einstimmigkeit erwidern könnten. Beide Individuen müssen ferner für die von ihnen artikulierten Menschengruppen anerkannt repräsentativ sein. Für diese unerhört komplexe Sachlage gibt es - noch - keinen Ausdruck. Es sei denn, man spricht von Demokratie – aber auch dieses Wort ist viel zu ungenau. Wie sollte man diese Interaktion also nennen?
Die deutsche Philosophin Petra Gehring erörterte vor kurzem in einem Buch über Sprechakte das, was sie „die Körperkraft der Sprache“ nannte. Sie erwähnte Gesang, Gebrüll, und vor allem das Skandieren in der Menge. Sie nannte es „ein Stück Entfesselung der dialogischen Normalität sowie auch des seine Worte allein verantwortenden Individuums.“ Dieser Sprechakt „zeigt: nein: stellt aus und feiert, was ihm Macht verleiht.“ Skandierende Massen wollen keinen Dialog – oft geht es nur um Hass und Wut. Zur Wortwerdung bräuchten sie individuelle Sprecher:Innen, die ihre Einstimmigkeit erwiderungsfähig machen. Und diese Sprecher:Innen brauchen wiederum individuelle Hörer’Innen, die diese Einstimmigkeit erwidern könnten. Beide Individuen müssen ferner für die von ihnen artikulierten Menschengruppen anerkannt repräsentativ sein. Für diese unerhört komplexe Sachlage gibt es - noch - keinen Ausdruck. Es sei denn, man spricht von Demokratie – aber auch dieses Wort ist viel zu ungenau. Wie sollte man diese Interaktion also nennen?
Oktober 2020 – dritte Woche
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gab es unter dem irreführenden Stichwort "Körper" eine erhellende Diskussion über das Diskutieren. Ute Frevert, Historikerin der Gefühle, betonte, dass man in der Demokratie nicht wie Carl Schmitt von Feind zu Feind spreche sondern von Gegner zu Gegner. Ein Grundvertrauen hindere den Umschlag in schiere Körperlichkeit - sprich Prügel oder Totschlag. Dieses Grundvertrauen verschwindet soeben in USA. Hat es dort je wirklich geherrscht? Kathrin Schmidt, die Autorin, verbat sich den Modus der "Gesinnungsbeweiskultur" in den Debatten - dem widersprach die Kulturkundlerin Eva Horn aber mit Rekurs auf die Usancen der Wissenschaft: hier müsse man sich einig werden können, nämlich über das, was erwiesenermassen der Fall sei. Niemand mochte den Sprung zu dem Fazit leisten: dass wir in eine Wissenschaftsreligion treiben, die - jedenfalls für die meisten - zur Glaubenssache werden muss, jedoch nur für wenige Priester diskussionseffizient bleiben kann, nämlich dann, wenn sie die Beweisverfahren beherrschen und die Öffentlichkeitstechnologie dazu.
Oktober 2020 – zweite Woche
Anhaltende Beklemmung allerseits: Trump wurde nach seinem Auftritt von Covid 19 befallen, liess sich ins Militärspital einweisen, dort aber nicht halten, kehrte vielmehr zurück ins Weisse Haus. Mit demonstrativer Geste riss er sich dort vor den Kameras die Maske vom Gesicht: wessen Gesicht war es nun? Immerhin hat sein Vize Pence inzwischen ein manierlicheres , aber unwichtiges TV-Duell mit Kamara Harris absolviert; unwichtig, weil die Parteien im Weissen Haus derweil machtkampfbedingt die dringend benötigten Coronahilfen gestrichen haben. Offenbar werden nun bis zur Wahl tausende Menschen sterben, weil medizinisch unversorgt. Es sind Menschenopfer mexikanischen Ausmasses.
Oktober 2020 – erste Woche
Das Drama nimmt seinen Lauf. Das erste Duell zwischen Joe Biden und Donald Trump zur kommenden Wahl verlief am 29. September genauso entsetzlich, wie vorhersehbar. Niemand wird sagen können, er habe das Ende der menschengemachten sprachlichen Kommunikation an höchster politischer Stelle nicht erlebt, alle Zeitgenossen sind Zeuge, so unfreiwillig auch immer. Wer dieses politische Format jetzt funktionstüchtig machen muss, ist nicht zu beneiden. Ausgerechnet ein Genosse aus Fox News soll jetzt einen wütenden Clown bändigen - weil die Grand Old Party nicht von ihm lassen will.
September 2020
Laut bis dröhnend sind die Importe aus USA fast seit jeher. Unsere Eltern oder Großeltern erlebten entsetzt ein Theaterstück wie „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ (1962) von Edward Albee, 1966 als Film mit Elizabeth Taylor und Richard Burton – wie konnten sich zivilisierte Menschen derart in Hass reden. Die Kehrseite, das verrückte einander-anschweigen, hatte diese Generation schon vorher bei Samuel Beckett erlebt: war Sprache überhaupt noch zu retten?
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Und erst recht heute: Nicht nur die dauernde Ferngesprächslage der Handykultur, sondern auch die Einbettung aller Äußerungen in Fadenkreuze von wütend emotionaler Zu- oder Abneigung, Teilung oder Löschung, Verrat oder Geheimhaltung, Anonymität oder Authentizität entscheiden über das gegenwärtige Mitteilungsverhalten von Mensch zu Mensch. Hass hat sich breit gemacht, Unflätigkeit kursiert massenhaft, alles wird denkbar wegen massenhafter Verkleidung und abgründiger Umsturzpläne. Was tritt hier zutage?
Erinnern wir uns: Schon vor 1900 spülte die sogenannte „Neue Musik“ unaufhaltsam einen riesigen Kontinent an Dissonanzen und Explosionen ins öffentliche Bewusstsein; eine zerrissene Landschaft, die bis heute nur qualvoll vernommen oder besucht wird. Gäbe es nicht eine weltweite Tradition der klassischen Harmonielehre, eine weltweite Instrumental- und Gesangskultur, eine Freude am Tanz schlechthin – wir wüssten wahrscheinlich nichts von lustvoller leibsozialer Interaktion beider Geschlechter. Als John Cage 1952 sein Meisterstück 4:33 zur Aufführung brachte, hatte ein philosophischer Kapitän im Narrenkleid das Ruder herumgeworfen. Nicht sprechen, sondern zuhören, lauschen, wäre vielleicht die Rettung.
Erinnern wir uns: Schon vor 1900 spülte die sogenannte „Neue Musik“ unaufhaltsam einen riesigen Kontinent an Dissonanzen und Explosionen ins öffentliche Bewusstsein; eine zerrissene Landschaft, die bis heute nur qualvoll vernommen oder besucht wird. Gäbe es nicht eine weltweite Tradition der klassischen Harmonielehre, eine weltweite Instrumental- und Gesangskultur, eine Freude am Tanz schlechthin – wir wüssten wahrscheinlich nichts von lustvoller leibsozialer Interaktion beider Geschlechter. Als John Cage 1952 sein Meisterstück 4:33 zur Aufführung brachte, hatte ein philosophischer Kapitän im Narrenkleid das Ruder herumgeworfen. Nicht sprechen, sondern zuhören, lauschen, wäre vielleicht die Rettung.
August 2020
2020 war wohl zu spät. Schon 25 Jahre zuvor hatte es einen ersten, dramatischen kommunikativen Kollaps gegeben – dieses Jahr 1995 könnte überhaupt in die Geschichte der menschengemachten Gesprächszerstörung eingehen. Seit der berüchtigten Schrift von Carl Schmitt über „Politische Romantik“ 1919, sondert eine Priesterkaste des Streits auch sprachlich Freunde von Feinden; längst bilden sie eine intellektuelle Kolonne. Wer nicht versteht, dass es hier um Machtkämpfe geht, und keineswegs um Verständigung, ist verloren.
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Immer feinere Werkzeuge des gegenseitigen Betrugs werden sichtbar, immer größere Reichweiten der Sabotage. Dass ein Mann wie Julian Assange seit Jahren vor sich hin vegetiert, von einem Gefängnis zum andern geschickt und mit drohender Ausweisung gefoltert wird, beleuchtet die brutale Innenausstattung der digitalen Welt nur schwach, aber immerhin deutlich. Gesprächszerstörung findet aber auch anderwärts statt, nämlich durch Bildkonsum. Der Satz „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, gilt eben auch umgekehrt: ein Bild zerstört mehr als tausend Worte – eben weil diese nicht mehr gebraucht werden. Und wirklich: Neben den organischen Gebilden in Flora und Fauna sterben vor unsern Augen bekanntlich auch Sprachen, angeblich dreitausend sind bedroht. Internetdominanz befördert nicht nur der Silicon Valley Speech sondern auch das Chinesische, das die Bildfabrikation seit langem raffiniert beherrscht, mit alltäglichen Milliarden von Emoticons oder Emojis, und den überwältigenden Fortschritten der face detection industry (siehe meine Gesichtsrundschau).
Szenenwechsel: Vor kurzem erschien hierzulande von Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun ein sanfter Ratgeber: „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ – als Gegenstück zu Garton Ash, weniger normativ als vielmehr Bestandsaufnahme der unerhört komplexen Situation. Autoren wie Pörksen und von Thun stehen mit dem Wort „Dialog“ in einer eigenen, langen europäischen Tradition. Sie beginnt mit den Griechen, mit Sokrates und seinem Schüler Platon und dessen ausgepichter Kunst des Diskutierens. Seit der Aufklärung, seit Goethe und Hölderlin, gab es den deutschen Philhellenismus mit einem geradezu metaphysischen Gesprächskult. Um 1900 erwachte mit Heinrich Schliemann ein nahezu leibhaftes griechisches Selbstbewußtsein unter den deutschen Bildungsbürgern: ausgerechnet die Deutschen etablierten nach 1918 und mehr noch nach 1945 eine Kultur des Dialogs als Kulturtechnik des Friedens. Jürgen Habermas wurde der Erbe. Sein Hauptwerk, die „Theorie der kommunikativen Vernunft“ von 1981 warf die herrschaftsfreie, argumentativ verbindliche Interaktion unter sprechenden und denkenden Menschen wuchtig in die philosophische Waagschale. Ein idealistischer Entwurf, aber durchaus im Kontext der innigen deutschen Tradition. Wüßte man nicht, welche ungeheure Weltgeltung Habermas bis heute erlangt hat, welche Leserschaft noch das letzte Werk des 93jährigen von heute aufmerksam liest, man könnte an einen deutschen Holzweg glauben. Aber es ist kein Holzweg – sondern die leise Stimme der Vernunft.
Szenenwechsel: Vor kurzem erschien hierzulande von Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun ein sanfter Ratgeber: „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ – als Gegenstück zu Garton Ash, weniger normativ als vielmehr Bestandsaufnahme der unerhört komplexen Situation. Autoren wie Pörksen und von Thun stehen mit dem Wort „Dialog“ in einer eigenen, langen europäischen Tradition. Sie beginnt mit den Griechen, mit Sokrates und seinem Schüler Platon und dessen ausgepichter Kunst des Diskutierens. Seit der Aufklärung, seit Goethe und Hölderlin, gab es den deutschen Philhellenismus mit einem geradezu metaphysischen Gesprächskult. Um 1900 erwachte mit Heinrich Schliemann ein nahezu leibhaftes griechisches Selbstbewußtsein unter den deutschen Bildungsbürgern: ausgerechnet die Deutschen etablierten nach 1918 und mehr noch nach 1945 eine Kultur des Dialogs als Kulturtechnik des Friedens. Jürgen Habermas wurde der Erbe. Sein Hauptwerk, die „Theorie der kommunikativen Vernunft“ von 1981 warf die herrschaftsfreie, argumentativ verbindliche Interaktion unter sprechenden und denkenden Menschen wuchtig in die philosophische Waagschale. Ein idealistischer Entwurf, aber durchaus im Kontext der innigen deutschen Tradition. Wüßte man nicht, welche ungeheure Weltgeltung Habermas bis heute erlangt hat, welche Leserschaft noch das letzte Werk des 93jährigen von heute aufmerksam liest, man könnte an einen deutschen Holzweg glauben. Aber es ist kein Holzweg – sondern die leise Stimme der Vernunft.
Juli 2020
Seit dem 28. Juli 2020 gibt es einen neuen podcast, aus der Taufe gehoben und moderiert von Michelle Obama. Angesiedelt auf Spotify, eingerichtet als Gespräch mit immer wieder andern Menschen, beginnt er mit – ja, natürlich, Barack Obama. Wann haben wir uns zuerst gesehen? Wie war das? Die beiden unterhalten sich höchst lässig. Und die Medien (ausser Fox News) sind begeistert. Sie finden Spotify ebenso im Rampenlicht wie die Spitzenleute der Demokraten, sie müssen nicht wieder Hillary sehen sondern eben die herausragende Vertreterin der schwarzen Minderheit, die heute so hart umkämpft wird. Und sie sehen: die attraktive Mutter zweier Kinder. Und alles im Vorfeld der Wahlen. Wird Michelle womöglich gegen Trump kandidieren? Nein, ich höre, sie hat das abgelehnt, gerade wegen der unglücklich ehrgeizigen Hillary. Aber wie repräsentativ ist dieser lockere speech? Ist er nicht eine unerhörte Ausnahme in unserer weltweit verwilderten Kommunikationsszene.
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Szenenwechsel: ebenfalls in den USA erschien soeben ein Buch von Suzanne Noessel, eine der CEOs des amerikanischen PEN: „Dare to Speak. Defending Free Speech for all“. Seit Trumps Amtsantritt bewacht dieser PEN die Szene der Medienkontrolle und – manipulation durch die neue Administration. Längst sind die Amerikaner auf demselben Niveau wie China: der permanente Fake-Vorwurf der Republikaner führte zum Sterben zahlreicher regionaler Zeitungen, denen niemand mehr glauben will oder darf. Journalisten werden eingeschüchtert, entlassen, verunglimpft. PEN America blickt auch über die Grenzen und berichtet von derartigen Attacken weltweit. Das öffentliche Gespräch ist verwüstet. In weiter Ferne liegt der Versuch von Timothy Garton Ash über Redefreiheit – an der er 2016 noch hing, idealistisch ahnungslos über die kommenden Entwicklungen. Zehn Gebote stellte er auf, die ein sozial fruchtbares kommunikatives Verhalten ermöglichen sollten. Die Utopie hieß: Redefreiheit in der digitalen Welt, bei gleichzeitiger Bändigung der negativen Auswüchse, die eine soziale Öffentlichkeit mehr und mehr lähmte. Konnten und würden facebook et aliae gleichzeitig zensieren und Gewinn erwirtschaften?