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Spiegel: "Herr Kluge, was bedeutet es, wenn zwei Menschen miteinander sprechen?" Kluge: "Es entsteht Musik, wenn einer fragt und ein anderer antwortet" – SPIEGEL Winter 2020
4. März 2021 – Innehalten. Weiter nachdenken über das Gespräch
Wer erinnert sich noch an die beiden Wiener Sozial-Philosophen Thomas Luckmann und Peter Berger? 1966 definierten sie den Menschen als Gesprächstier, aber nicht etwa als Unterhaltungskünstler im höfischen oder bürgerlichen Sinne. In ihrem Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (The Social Construction of Reality) gaben sie sich vielmehr technisch und zeichneten eine Gesellschaft mit weltweit ratternder „Konversationsmaschine“. Sie sahen im Gespräch das Medium für soziales Leben, ja für Realitätsherstellung überhaupt.
So abschätzig also das Wort, so ehrgeizig seine Bedeutung. Nur weil Menschen beständig miteinander reden, sagten die Autoren, gibt es so etwas wie geteilte Realität. Wir halten für real, was alle sagen und wovon alle reden. Der Konstruktivismus war geboren. Alle möglichen Kulturleistungen wurden als „konstruiert“ erkannt, als soziale, sozusagen „zusammengeredete“ Weltdeutung, nicht aber autonom biologisch oder physikalisch erzeugt.
Soziologen sind keine Historiker. Natürlich gibt es reale Institutionen, die wir nach der Geburt einfach vorfinden und zur Sprache erst bringen müssen: überlieferte Gebräuche, Gebäude, Werke von Technik, Kunst und Literatur. Und es gibt biologische Institutionen, wie das Leben auf Erden, ganz ohne menschliche Reden. Was die beiden Soziologen damals nicht ahnten: dass mit den „social media“ von heute tatsächlich Konversationsmaschinen im Wortsinn entstanden, also Geräte, deren massenhafte Verwendung und Gleichschaltung Realitäten im Plural generieren.
Nicht im Traum hätten die beiden Emigranten aus Österreich sich vorstellen mögen, dass diese technisch erzeugten und befestigten „Realitäten“ widersprüchliche, gigantische Soziotope in Millionenhöhe erzeugen könnten, dass diese allesamt mit „leadern“ oder „influencern“ navigiert würden, ja dass ganze „Meinungsdörfer“ oder “Meinungsstädte“ , ja fast „Meinungsnationen“ entstehen könnten. Selbst die Einführung eines „dialogical turn“ um die Jahrtausendwende konnte das nicht mehr aufhalten. Bald gab es nur noch ein gespenstisches Amalgam von „Dialog als Werbung“ (public relations im Konsumrausch), und „Dialog als Machtkampf“ oder Vorspiel zum Duell.
Die Konversationsmaschine von heute, das „Clubhouse“, erweckt aber Hoffnung. Ebenso wie Barack Obamas podcast. Beide Techniken könnten gut genutzt auch in Corona Zeiten menschliche Nähe entstehen und spüren lassen. Unsere Stimmen verleihen uns Identität, Authentizität und Körpererfahrung, vor aller Konstruktion.
1. März 2021 - Dämon auf der Bühne
Da stand er wieder auf der Bühne, gestern, Donald Trump, nach wochenlangem Schweigen, und wiederholte ad nauseam seine bekannten Wahlreden. Hat er je etwas anderes gehalten? Niemand hätte ihm einen Sinneswechsel zugetraut, niemand war überrascht, ihn wieder vom Wahlbetrug reden zu hören, von toten Wählern, verschwundenen Stimmzetteln etc. Bittere Kritik an Biden, vor allem an dessen Einwanderungspolitik, dann auch an der "cancel culture". Süßholzraspelnd bedankte er sich bei einigen Menschen namentlich (sie werden in die Geschichte eingehen), und wieder beschwor er die gloriose Zukunft der Anwesenden. Jubel am Schluss, erschreckend frenetischer Jubel seiner Meute. Wirklich erschreckend. Ein paar Stunden zuvor hatte Josh Haley zum Sturm auf Silicon Valley aufgerufen.
27. Februar 2021- Können uns Podcasts heilen?
Vor ein paar Tagen eröffnete Barack Obama wieder einen Podcast - diesmal mit Bruce Springsteen. Disparate Welten verbinden oder suchen sich zumindest. Man erinnert sich an den 28. Juli 2020: den ersten Podcast Auftritt Obamas mit Michelle, in lockerem speech. Man hoffte damals wohl auf Entspannung in den kommenden Wahlkampfritualen. Podcasts springen gerade überall auf wie Krokusse. Sie beflügeln das Radio, befreien es vom Zeitregiment, sie haben das neue "Clubhouse " ermöglicht, und sie bieten Spotify und also nicht Apple, ungeahnte Höhenflüge. Facebook: das Gesichtsbuch: hat wohl ausgedient. Jetzt kommt das Gesprächsbuch. Oder das Hörbuch. Gestern schoss allerdings sekundenlang die Nachricht durch die Medien, dass Trump- Anhänger das Kapitol sprengen wollten.
21.Februar 2021 – Und wieder im Clubhouse
im neuen SPIEGEL (8/2021) kann man drei Seiten über die apple app namens „Clubhouse“ nachlesen. Es ist inzwischen ein unbeschreiblicher Hit geworden. Wie schon früher beschrieben, werden hier keine Bilder und Texte sondern nur Stimmen ausgetauscht. Es gibt echte Gespräche – unter eingeladenen Gästen, mit viel Prominenz, alle in Echtzeit. Dieses ortlose Haus hat viele Räume wie in einem englischen Clubhouse, man spricht ohne „negative politeness“ (Erving Goffman), ohne Statusdialoge. Wichtige SprecherInnen sind ohnehin bekannt. Also werden dringliche Themen besprochen, von teils stark diversen Partnern: Und siehe: es ist möglich. (Manche Räume werden von mehr als tausend Leuten besucht, weil eben auch abertausend Einladungen verschickt werden).
Die Gründer Rohan Seth und Paul Davidson, sagt der SPIEGEL, wollten ursprünglich nur Geld für eine medizinische Forschung sammeln, die kleine Tochter von Seth litt an einer seltenen Krankheit. Herauskam ein Podcast mit Hörerbeteiligung. „Der Wert von Seths Idee eines sozialen Netzwerks, das der Intimität der menschlichen Stimme vertraut, wird von den Kapitalgebern schon auf bis zu 1,4 Milliarden Dollar geschätzt.“
17. Februar 2021 - Rush Limbaugh
"Rush Limbaugh died today at the age of 70, ridding the world of a voice that has done more harm to the institution of democracy and the human value of compassion than almost anyone over the past few decades. If there is a hell, he is in it; if there is not, he is nothing." discourseblog.com
Welch ein Nachruf auf den Mephisto der Medien. Seit 1995 schrie er mit heiserer Stimme bei Fox News Hass ohne Ende in den Äther, hatte angeblich 20 Millionen Hörer pro Woche, jahrzehntelang. Eine Mediengeschichte ohne ihn wäre undenkbar. Aber ist er nicht auch symbolisch, dieser Tod jetzt, nach verlorener Wahl ?
14. Februar 2021 - Hundert Sprechakte schreiben Geschichte
Was für ein denkwürdiger Dialog endete gestern im Kapitol mit hundert Sprechakten: "schuldig" oder "nicht schuldig". 57 Stimmen verurteilten Trump zum impeachment, 43 sprachen ihn frei, das reichte zum Machtwort. 43 Stimmen von in sich zerrissenen Menschen, ehrgeizig, gewissenlos vor Angst oder einfach zynisch. Die demokratischen Ankläger hatten eine fantastische Dokumentation des Überfalls vom 6. Januar präpariert - mitreissende, beängstigende Zeugnisse in Bild und Ton. Die Verteidigung folgte der legalistischen Devise: einen Mann ausserhalb des Amtes kann man nicht mehr des Amtsmissbrauchs bezichtigen. Und überhaupt: Niemals habe Trump zum Marsch auf das Kapitol aufgehetzt, niemals habe er seinen Vizepräsidenten Pence einem wütenden Mob ausgeliefert, immer nur ganz normale Rhetorik benutzt. Aber war es nicht alles nur eine grelle Imitiation der beiden berühmten Märsche von 1922 - Mussolinis Marsch auf Rom - und dessen Nachahmung 1923 durch Hitlers Marsch zur Feldherrenhalle? Man möchte Hegel mit Marx zitieren , wonach "alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich so zu sagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andre Mal als lumpige Farce.“ Hier also nun die lumpige Farce im dritten Aufguss der Szene. Was könnte ein Regisseur daraus machen?
11. Februar 2021 - Das Verfahren
Wieder zitiere ich die Neue Zürcher Zeitung, diesmal zum Modus des Impeachment Verfahrens. Angesichts der Schärfe dieser weltpolitischen Auseinandersetzung wird man auf jedes Detail achten müssen:
„Das Absetzungsverfahren für amerikanische Amtsträger sieht vor, dass das Repräsentantenhaus die Anklage übernimmt und der Senat die Rolle der Geschworenen. Weil das zweite Impeachment gegen Trump nicht mehr gegen einen amtierenden Präsidenten gerichtet ist, entfällt die Vorschrift, die beim ersten Impeachment noch zur Anwendung gekommen war: dass der Vorsitzende des Supreme Court den Prozess im Senat leitet. An seiner Stelle übernahm der dienstälteste demokratische Senator , in diesem Fall der 80 Jahre alte Senator Patrick Leahy aus Vermont, diese Rolle. Er wird aber trotzdem auch über das Urteil abstimmen können.“
Allgemein angenommen wird, dass siebzehn republikanische Senatoren umschwenken und für die Amtsenthebung stimmen müssten. Dafür waren bisher sechs. Man stelle sich die dramatischen Dialoge hinter den Bühnen vor: der Senatoren untereinander, der Senatoren mit ihren Wahlkreisen, der Senatoren mit sich selbst.
9. Februar 2021 - Untödliches Schweigen
Beim Lesen der weltdeutschen Ausgabe der NZZ wird eines klar: im Diskurs der Wissenschaft sind verbohrte Linke so gefährlich wie verbohrte Rechte. Die einen zerstören die Universität durch militantes Insistieren auf Political Correctness, wie Ulrike Ackermann darlegt. Die andern zerstören die Politik durch Zynismus, beschreibt Urs Hafner. Die Zyniker, möchte man erläutern, halten wissenschaftliche Aussagen für Versionen von Meinung: denn es gibt "alternative Fakten". Schon vor Trump gab es Vorläufer für derlei Zwist in den USA. Man denke an die Prozesse zwischen Tabakindustrie und Rauchern. Oder an Prozesse zwischen Fracking Unternehmern und Kommunen, die Erdbeben fürchteten. Oder in letzter Zeit Prozesse gegen die Opiatindustrie. Wer den gewandteren Anwalt hat, kann vor Gericht Faktenrecht sprechen.
Heute wird in Washington der zweite impeachment Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten eröffnet. Er findet im Modus einer Gerichtsverhandlung statt, ohne das Personal und das Schriftwort der Rechtsprechung. Nur eine Zahl entscheidet. Die regierenden Demokraten plädieren auf das Kernstück der „Political Correctness“: eine vorbildlich rechtschaffene, verantwortungsvolle Regierung. Eine Regierung, die weder lügt, noch betrügt, noch Hass verbreitet, noch aufhetzt zum Putsch, noch zynisch Menschen sterben lässt.
Könnten die verführten, taktierenden, machtgierigen Republikaner sich bei der Abstimmung der Stimme enthalten? Könnten sie schweigen? Welches Gewicht hätte ihre Zahl?
22:00 MEZ das Verfahren hat begonnen. Die "impeachment managers" David Cicilline und Jamie Raskin beschreiben die Schrecken des Aufruhrs vom 6. Januar, teils weinend. Sie definieren das Verfahren als "akin to a Grand jury": also ebenbürtig zu einem Gerichtsverfahren, gedeckt von der Constitution. Die Anwälte von Trump beginnen dagegen mit einer riesigen Anklage gegen die Ankläger. Bruce Castor beschwört Athen und Rom als Orte des politischen Zerfalls, durch Feindschaft von innen. Er malt die Schrecken aus, die jeder Senator in seiner Wahlheimat erleben würde, sollte er Trump impeachen. Es folgt David Schoen und erklärt die Anklage für rechtlos und falsch in jeder Hinsicht. Man merkt: nicht Trump, sondern die Demokraten sollen impeached werden. Die Spaltung des Senats scheint bevorzustehen.
4. Februar 2021 - Weiter im Clubhaus /Clubhouse
Gestern fand also wieder eine Salonsitzung im neuen Clubhaus statt: es ging um Musik. Mehr als zwanzig TeilnehmerInnen wurden gezählt, alle möglichen Musikmenschen kamen vor: von der Wirtschaft, von der künstlerischen Praxis, von der Corona-Klagemauer. Apropos Musik: Alexander Kluges Zitat steht dieser Gesprächsrundschau als Motto voran! Als Historikerin der europäischen Gesprächskultur ("Die Kunst des Gesprächs", hier auf meiner website zu lesen) möchte ich natürlich an Roberto Simanowski erinnern: " Europa-Ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons", Göttingen 1999. Ein Sammelband mit vielen Perspektiven, unter anderm der weiblichen. Der Salon war um 1800, mit gebildeten, ehrgeizigen und sprachmächtigen Frauen wie Mme de Stael, ein subversives Werkzeug der Intelligenz. Könnte man dort im europäischen Modus wieder anknüpfen? Noch vor wenigen Jahren galt Facebook als vielgeliebtes Update zum Weltgespräch: aber Hass und Hetze und Irreführung untegraben inzwischen alle Anerkennung.
3. Februar 2021 - Finale Duelle
Nawalny wurde zu drei Jahren Haft verurteilt: ungeheuer zynisch. Er soll Auflagen einer älteren Bewährungsstrafe nicht erfüllt zu haben - sich polizeilich melden- aber wie sollte er, halbtot nach einem Giftanschlag? Das Machtwort des Gesetzes wurde schändlich missbraucht, überschrieben vom Machtdiktat eines Diktators. Nawalny ist dennoch ein furchterregender Gegner für Putin. Er hat die Jugend für sich gewonnen. Wir erleben tatsächlich ein Duell zweier Giganten der öffentlichen Politik.
Ähnlich die Szene in Burma oder Myanmar. Die Ikone der Freiheitsbewegung, die zierliche, elegante, vom Volk geliebte Aung San Su Kyi , wurde vor zwei Tagen entmachtet und verhaftet, von einem Militär namens Min Aung Hlaing. Die Vorgänge sind noch rätselhaft, aber sie wird offenbar wegen Hochverrats angeklagt. Die Todesstrafe droht. Die Lady und der General: auch hier ein Duell von Giganten der Weltpolitik.
Zu schweigen von Joe Biden und Donald Trump, dem abgewählten Ex-Präsidenten, dessen finale Abwahl im sogenannten Impeachment bevorsteht. Zwei Drittel des Senats müssen diese endgültige Verurteilung befürworten. Werden genügend republikanische Senatoren zustimmen? Am 9. Februar schlägt die Stunde der Opportunisten. Ein reissendes Tier im Eingeweide der westlichen Demokratie, ein Mann, der eine halbe Million Menschen aus Faulheit und Zynismus sterben liess - ihm wollen sie wirklich applaudieren?
1. Februar 2021 - Weiter, und immer mehr Aufruhr
Das Video von Alexej Nawalny soll über 100 Millionen Zuschauer erreicht haben. Tausende von jüngeren Menschen haben mit Demonstrationen begonnen, tausende wurden geschlagen, verhaftet, gefoltert. Sie opfern sich für Nawalny, wollen Nawalny zurückgeben, was er ihnen geschenkt hat: nicht nur dieses Video mit den schier unfassbaren Recherchen, sondern auch sich selbst, als Häftling für 30 Tage. Vorerst. Verhaftet wurden auch viele Mitarbeiter und seine Frau.
Nun also dieselbe Szene wie in Belarus, wo immer noch Demonstranten auftauchen, wo immer noch geprügelt und verhaftet wird, wo sich immer noch ein Tyrann hält. Das ist der weltweite Modus des politischen Streits von heute: mit social media induzierter Aufstand gegen die Herrschenden, ganze Stadtteile sprechen plötzlich in Stimme und Schrift. Das Gerippe der Verfassungen scheint auf: unbewaffnete Bürger prallen auf uniformierte Instanzen: Ordnungsdienst, Polizei, Geheimdienst, Militär. Schliesslich, wie soeben in Myanmar, Diktatur auf der einen, massenhaft Märtyrertum am andern Ende der Skala. Welche Soziologie kann das fassen?
26. Januar 2021 – „Clubhaus“
seit einer Woche tobt ein Hype in der Medienwelt: ein neues Apple App Format namens „Clubhouse“ wurde gestartet: offenbar unter Teilnahme von Prominenz. Ein Salon auf gut deutsch: das Urbild der Social Media, kein Kongress, wie die NZZ schreibt. Es gibt hier diverse “Rooms“, mit diversen Themen und Besuchern, diese werden aber eigens eingeladen und auch namentlich annonciert.
Ein Gastgeber moderiert, und ausser kleinen Profilbildchen gibt es nichts zu sehen, nur zu hören. Ein summender Bienenkorb für Karrieristen? „Wer soll das alles hören“, schreibt die NZZ am 26. Januar, ist aber zufrieden, weil Twitter fehlt. Dessen Lockstoff: weltweit und anonym beliebige verbale Brandsätze schleudern zu dürfen und sich auf das First Amendment zu berufen, fehlt hier also. Das Medium Radio verhindert einen Umschlag von Dialog in Duell, vulgo Prügel, und der Gastgeber sorgt für Manieren im Gespräch. Tut er das? Wer wird dazu ernannt? Jedenfalls erscheint an diesem Horizont ein Stück antiker, höfischer, ja auch konfuzianischer Konversationslehre. Bevor man hier von Zensur redet, sollte man sich mit dieser Vorgeschichte des sensus communis befassen.
23. Januar 2021 – Aufruhr in Russland
Ein Tsunami aus Russland steht ante portas. Der „Berliner Patient“ Nawalny wurde zwar nach seiner Rückkehr sofort verhaftet und verurteilt, aber seine Vergeltung für den Giftanschlag kam dennoch punktgenau. Angeblich mehr als 30 Millionen User haben auf Youtube „Beifall“ zu Nawalnys Video geklatscht, eine 2stündige Doku über einen Traumpalast am Schwarzen Meer, finanziert von Oligarchen, die ihrerseits damit Steuern sparten...
Beifall heisst hier meist: Daumen hoch; ein von Facebook erfundenes Satzzeichen, wie auch das Gegenteil, Daumen runter. Kein Satzzeichen hat den Dialog brutaler gestaucht als dieses Ja oder Nein. Es erinnert an das „Geld oder Leben“ aus Kriminalstories. Bedenkt man, welche Konsequenzen in unserer Wirtschaftswelt Klickzahlen haben, muss einem schwindlig werden. Es handelt sich um ein Kapitel der sozialen Verzifferung. Darüber mehr ein andermal.
Dieses Satzzeichen sprang also aus der Gestik, aus der Körpersprache ins Schriftbild und von dort zurück in den Körper, nicht nur bei Trump. Im Schriftbild wurde es rein„gewaschen“ wie Schwarzgeld in Immobilien. „Rein“ heisst: globalisiert. Gesten gehören aber eigentlich zu den Lieblingen der Dialekte. Sie sind häufig idiosynkratisch, also auf engste Kommunikationen bezogen: Gaunersprache, Liebessprache, Verschwörersprache: viele haben ihre eigenen kleinen raffinierten Gesten. Sprache dient eben nicht nur der Verständigung – vielmehr genauso der Abgrenzung. Inklusion und Exklusion heisst das heute.
21. Januar 2021 – Sprechakte der Weltgeschichte
Tatsächlich folgten die Sprechakte der Weltgeschichte gestern einander Schlag auf Schlag. Am Dienstag sprach der geliebte Präsident Trump 97 Begnadigungen über seine willigen Helfer aus; am Mittwoch, den 20. Januar, folgte die Vereidigung des gewählten Präsidenten Joe Biden, sowie die Vereidigung der Vizepräsidentin Kamal Harris. Danach ernannt wurden die drei neu gewählten demokratischen Senatoren, die nun Parität bewirken. Die Vizepräsidentin wird im Zweifel den Ausschlag geben. Der bisherige Mehrheitssprecher Mitch McConnell wird Minderheitssprecher. Wie er sich zu einem denkbaren Impeachment gegen Trump verhält, ist noch unklar.
Trump verabschiedete sich an diesem Mittwoch mit einer Ansprache auf einem Militärstützpunkt. Vor wehenden Fahnen erinnerte er die kleine Schar von Zuhörern an seine Leistungen für die (illegitime?) neue Administration. Er, Trump, hat alles aufs Beste hinterlassen. Und er verspricht/droht: er wird wiederkommen, auf die ein oder andere Art. Beifall brandet auf. Ist Beifall ein Sprechakt der Zustimmung? Nein, eher ein Sprachabsturz, darin verwandt mit Gelächter oder Weinen oder Schreien. Der Philosoph Helmut Plessner hat dieses sprachliche Jenseits erläutert. Beifall ist ein geordneter Sprachabsturz; Versprechen dagegen gelten als wahrhafte Sprechakte: wie etwa ein Eheversprechen.
17. Januar 2021 – Machtworte - Ohmachtsworte
selig, wer in diesen Wochen Gesprächsforschung betreibt! in nur wenigen Tagen erschien fast jede rhetorische Figur, die man mit der Idee eines „Machtworts“ assoziieren kann. Jedes Machtwort ist ein Sprechakt*, immer muss dem Wort aus dem Munde eines Machthabenden unmittelbar Handlung folgen, entweder einmalig oder dauerhaft, wie bei jeder gesetzlichen Anordnung. Selbst das Ohnmachtswort dessen, der seine Niederlage eingestehen muss, wäre in diesem Sinn ein Machtwort.
* mein gebrauch des fachwortes speech act ist angeregt von petra gehring, über die körperkraft der sprache, 2019.
Wir erlebten also: Die Bestätigung des gewählten Präsidenten durch den Kongress, die Anklage /Impeachment des abgewählten Präsidenten durch das Repräsentantenhaus, das Hetzwort des amtierenden Präsidenten vor dem Gebäude, das chorische Skandieren seiner Meute mit folgendem Überfall auf das Gebäude.
Als Reaktion darauf Verhaftungen der Aufrührer und Mundtotmachen der Anführer durch Schließung der accounts von twitter und facebook. Nicht nur Donald Trumps Konten, sondern an die 70tausend accounts seiner Gefolgschaft wurden von den technischen Machthabern aus Silicon Valley geschlossen, technisch mit ein paar Handgriffen. Waren diese Handgriffe so etwas wie das Auflegen des Hörers beim alten Telefon? Waren es "Machtworte" der Technik - und kann die Sprachforschung so etwas beschreiben? Jedenfalls war es die abrupte Überführung von Dialog zu Duell, wenn man das Wort „mundtot“ wörtlich nimmt. Die öffentliche Meinung zeigt sich erfreut. Schon längst hätte man diese Löschtaste bedienen müssen. Das heisst im Klartext: wir nähern uns einer moralischen Zensur - parallel zu den diktatorischen Kollegen weltweit.
Weitere Machtworte werden auf dieser welthistorischen Bühne folgen. Eine Verurteilung der Aufständischen vom 6. Januar 2021 könnte unverzüglich mit einer Begnadigung durch den amtierenden Präsidenten zurückgenommen werden, eben weil er noch wenige Tage lang amtiert.
14. Januar 2021 - Pause im Weltdrama
Gestern entschied sich das Repräsentantenhaus für ein impeachment gegen den Präsidenten. Angeblich mit 237 Stimmen gegen 195 , nur zehn Republikaner wechselten die Seite. Nun müsste noch der Senat zustimmen, allerdings ohne Vizepräsident Mike Pence und ohne Dringlichkeitssitzung, und noch weiss man nicht, wie sich die Schlüsselfigur des Dramas, Mitch McConnell, entscheiden wird. Frühestens nach der Inauguration von Joe Biden, also kommenden Donnerstag oder Freitag, könnte der Senat wieder tagen. Bis dahin könnte die Parteispitze auf der Hinterbühne freilich entschieden haben, wen man sich als Nachfolger von Trump wünscht.
Auf der medialen Vorderbühne ist eine dramatische Pause eingetreten. Was tut und denkt der Präsident mit den letzten Getreuen? Was hecken sie aus? Wer sorgt sich um den Atomkoffer in Trumps Händen? Wie werden sich die wütenden Anhänger in den kommenden Tagen bundesweit benehmen - kann Trump sie twitterlos überhaupt noch erreichen? Muss er noch eine Fernsehansprache halten, um sie zu bändigen? Will er sie bändigen? Die brodelnde Wut der verurteilten Kapitolstürmer könnte ihm gefallen.
12. Januar 2021 - twitterstop?
Wieder und immer weiter geht es um den Umschlag von Dialog in Duell oder schiere Kampfhandlung: immer mehr zeigt sich die „Körperkraft der Sprache“ (Petra Gehring). Denkwürdige Widersprüche der öffentlichen Meinung gibt es nach dem twitter Verbot für Trump. Man spricht von „digitaler Amtsenthebung“; man bedauert Trumps Schweigen als Einkommensverlust für die Firma, man nennt twitter „die fünfte Macht im Staate“ – obgleich der Aufstand vom 6. Januar doch dank der Macht des Präsidenten zustande kam. Wer war der Sprecher? Jeder Literaturkurs stellt diese Frage.
Leider hält inzwischen selbst die Kanzlerin das twitter-Verbot für Präsident Trump eine Sünde gegen die Meinungsfreiheit. Gottlob hat sofort Bernhard Pörksen, der Gesprächskundigste unter allen Medienweisen, Einspruch erhoben. Wenn das Haus in Flammen steht, sagte er sinngemäß im Deutschlandfunk, kann man nicht über das Recht des Eigentümers streiten, es anzuzünden.
Also zeigen sich gerade auch wieder die Grenzen des first amendments. wer twitter verbietet – verbietet ein Medium und nicht die Aussage. Oder hat das Diktum aus den 1960er Jahren („the medium is the message“) inzwischen Verfassungsreife? Sicher hat diese Textsorte namens twitter eine technische Generalaussage: „lies schnell, was hier steht, egal wo du bist und in welchen umständen“. Diesem appellativen Zünder einen leibhaften Schlachtruf aus der Position des Herrschenden liefern zu dürfen, soll „ Meinungsfreiheit“ bedeuten? Denn hier liegt doch die Differenz zur twitter-Nutzung etwa in Belarus oder anderen demokratischen Aufständen. Wer spricht hier? Was wird wann, warum und zu wem gesprochen?
10. Januar 2021 – Dialoggewitter in Washington
Immer noch herrscht Aufruhr allerorten. Erinnerungen an Geschichte und Literatur flackern auf. Das Ende des Römischen Reiches wird evoziert, der Sturm auf die Bastille 1789. Der Historiker Wolfram Siemann meinte in der FAZ, Trump habe sich von dem – selbst angefeuerten – Überfall auf das Kapitol ein Blutbad erhofft, juristisch echten Notstand, sodass man ihn bis auf weiteres als Präsidenten hätte behalten müssen.
Das klappte also nicht. Vielleicht, weil er die Rolle der Bilder vergessen hatte? Viel physische Brutalität wurde doch von der Eitelkeit der Akteure unterdrückt, man denke an den tätowierten Q-Anon Schamanen mit Büffelhörnern. Die Randalierer wollten lieber posieren und Selfies nachhause schicken, womöglich mit ebenso eitlen Polizisten.
Aber das war ja auch nur eine von mindestens sechs Dialogbühnen an diesem sechsten Januar 2021: der Kongress in der entscheidenden Abstimmung, die Straße mit brüllenden Aufrührern, die regierungsnahen Medien mit einem kommentierenden Weltpublikum: – und darunter, vielleicht am mächtigsten, die Social Media in fast jeder einzelnen Hand: Eine kommunikative Schattenwirtschaft unterspülte den physischen Tumult in Bild und Ton und transportierte das Geschehen in jedes noch so kleine Wohnzimmer.
Inzwischen haben die verantwortlichen Unternehmen dem Anführer Trump buchstäblich das Wort entzogen: Twitter, Instagramm etc., selbst das rechtslastige „Parler“ mussten seine accounts sperren oder löschen. Was wird er machen?
8. Januar 2021: - Die Trümmer des 6. Januar
Weltweites Entsetzen gab es und eine innenpolitische Bilanz: mindestens fünf Tote (die erschossene Frau wurde als Eindringling von der Polizei getötet, ein Polizist erlag Verwundungen); man fand Schusswaffen und Rohrbomben, mehrere Dutzend Randalierer wurden verhaftet, mehrheitlich wegen Verstoss gegen die Ausgangssperre. Nach schweren Vorwürfen kündigte der zuständige Polizeichef seinen Rücktritt an, so aber auch die Hälfte der Mitarbeiter im TrumpWhiteHouse. Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Trump verlas erneut eine Videobotschaft, von wem auch immer verfasst: alle Aufsässigen sollen bestraft werden, Recht und Ordnung sollen herrschen, Versöhnung und Frieden. "Vor Tische las man's anders."(Schiller).
Trump hat die Niederlage eingestanden? Nein, seine Gegner hatten Glück. Nicht nur hat Georgia zwei demokratische Senatoren gewählt, auch der Kongress hat Joe Biden und Kamal Harris bestätigt,trotz der dramatischen Umstände. Eine weitgehend demokratische Politik kann beginnen. Was aber geht in den siebzig Millionen TrumpWählern vor? Eine Blitzumfrage besagt: mehr als vierzig Prozent waren mit der Inszenierung einverstanden . Dass diese Menschen sich in einem irrealen Film fühlen, den sie für Realität halten, ist nicht nur den Lügen des Präsidenten geschuldet, sondern auch der Kommunikationsszene, in der sie sich bewegen. Von ungeliebter Realität zu geliebten Filmen, Fox- und Verschwörungs-News , Whatsapps mit Blutsfreunden, und Twittern des Abgottes. Wie soll Joe Biden dieses Nessushemd auflösen? Zwar hat man Trump Facebook und Twitter mindestens bis zur Amtsübergabe gesperrt, aber was kommt dann? Er hat den geliebten Revoluzzern den Beginn einer großen Zeit angekündigt...
In einem DLF Interview heute morgen erklärte der ehemalige US Botschafter Kornblum, Europa müsse sich auf ein ähnliches Erstarken der rechten Bewegungen gefasst machen. Ein zweites DLF Interview galt Jörg Meuthen: man erinnerte ihn an den kleinen "Sturm" auf den Reichstag vom August 2020, und an den Einbruch von AfD Besuchern ins Parlament. Beides, fand Meuthen, habe nichts, aber auch garnichts mit dem Kapitolsturm zu tun. Wirklich?
7. Januar 2021: Der Sturm auf das Kapitol
Es passierte schon gestern, was viele für heute befürchtet haben. Trump hat seine Reality Show mit furchterregender Präzision fortgesetzt. Nach einer aufpeitschenden Rede stürmten tobende Anhänger das Kapitol, kletterten auf das Dach, drangen ins Innere, erschossen eine Frau. Es müssen evangelikal oder verschwörungsberauschte Menschen gewesen sein, jedenfalls waren sie selbst die Droge für Trump. Erst unter Druck von Joe Biden forderte er seine Meute zu Ruhe und Frieden auf - mit Lügen über einen Wahl-"Diebstahl" pathetischer denn je. "I love you" sagte er zynisch gerührt in der Videobotschaft. Polizei und Nationalgarde lösten die Ansammlung auf.
Was für ein Dialog einerseits, was für ein "Duell" andererseits. Stammt das Drehbuch aus den 1920erJahren? War es der Marsch auf Rom (Mussolini) oder der Marsch auf die Feldherrenhalle (Hitler)? Sicher operiert Trump seit seiner Wahl- Niederlage mit einer Dolchstoßlegende wie die Deutschen vor hundert Jahren, die ihre Niederlage im Ersten Weltkrieg nicht akzeptieren wollten. Hitler wurde ihr Stimmführer. - Wenigstens löschte Twitter gestern noch Trumps account für 12 Stunden. Auch das Video wurde gelöscht. Facebook und andere social media erwägen weitere Schritte. Massgebliche Stimmen verlangen Trumps unverzügliche Entfernung aus dem Amt. Man fürchtet seine weiteren Pläne.
6. Januar 2021 - 17 Uhr : Massenauflauf in Washington befürchtet
wie befürchtet, läuft die Wahlbestätigung im Kongress mit maximaler Behinderung durch die Trumpanhänger ab. Senatoren und Parlamentarier stellen Misstrauensanträge gegen sechs Bundesstaaten, jeder einzelne Antrag hat Anspruch auf 2 Stunden Diskussion. Man rechnet mit 12 Stunden für die ganze Prozedur. Nach und nach mündet der Dialog in das Duell. Denn gerade in dieser Zeit versammeln sich vor dem Kapitol die Anhänger, Trump wird in wenigen Minuten auftreten und sie anheizen. Waffen sind zwar verboten, werden aber mit Sicherheit von den "Proud Boys"eingeschleust. Die Nationalgarde wurde offenbar alarmiert.
6. Januar 2021 - Der oberste Wahlleiter Gabriel Sterling widerlegt jede Trump-Behauptung
und die Washington Post fragt sich heute entsetzt: was kann die Sekte der Trump-Republikaner noch anrichten? Heute soll parallel zur Auszählung in Georgia die Wahl von Joe Biden im Kongress offiziell bestätigt werden. Die abtrünnigen - etwa hundert - Parlamentarier und Ex-Richter wie Ted Cruz werden eine parallele Sitzung abhalten. Was können sie vorbringen? Wen glauben sie zu repräsentieren? Warum greift der Supreme Court nicht ein? Was wurde aus der jungen Bundesrichterin Amy Coney Barrett, die Trump gerade auf Lebenszeit berufen hat?
5. Januar 2021 - Das Gespräch des Jahrhunderts
könnte es werden, gestern der Anruf des amerikanischen Präsidenten beim obersten Wahlbeauftragten Raffensberger in Atlanta, Georgia. Mehr als eine Stunde beschwor der verzweifelte Trump diesen Mann, die Wahlergebnisse erneut auszuzählen, und zwar von Hand, da man den Maschinen nicht trauen könne. Zweimal hatte der Republikaner schon nachzählen lassen, jetzt weigerte er sich. 11779 Stimmen verlangte Trump, „that‘s a number that everyone agrees on.” Unterschriften seien gefälscht worden, willige Wähler abgewiesen etc. pp. Nach der atemlosen Suada des Präsidenten und einem Zwischenruf seines Stabschefs erwiderte Raffensberger ruhig und fest: „we don’t agree that you have won“. Und er führt alle Kontrollen an, die von republikanischer Seite erfolgten, auch die Kontrolle der „Dominion machines“ mit handgezählten Wahlzetteln, 1% konnten beweisen, dass Hand und Maschine gleichauf zählten.
Der unentwegte Kampf der amerikanischen Weltmacht um truth oder fake ist auf dem Höhepunkt. Wer die Anhänger Trumps verdächtigt, wider besseres Wissen alle möglichen Vorwürfe an die Wahlbehörde zu richten, hat vermutlich recht. Der Wahlprozess , ja der ganze öffentliche Diskurs, verrottet vor unsern Augen. Republikaner im ganzen Land unterwerfen sich trügerischen, nein betrügerischen Behauptungen, ohne jemals irgendetwas verifizieren zu können, vor allem aber zu wollen.
Warum konnte man das alles in der New York Times lesen? Raffensberger liess das Telefonat mitschneiden und vereinbarte: falls Trump kein Stillschweigen darüber bewahren werde, werde es veröffentlicht. Here we are. Morgen kommt es zum Showdown in Georgia. Zwei Senatoren müssen in einer Stichwahl gewählt werden. Werden es Republikaner, kann der Senat alles blockieren, was der nachfolgende Präsident durchsetzen möchte. Gewinnen zwei Demokraten, gibt es ein PATT im Senat - und die Vizepräsidentin Kamala Harris entscheidet. Konnte der Gesetzgeber von einst sich jemals so eine Lage vorstellen?
22. Dezember 2020 - Streit um israelische Politik
Vier Wochen sind seit dem letzten Eintrag vergangen – wieder mit unerhörten Ereignissen wie seit Corona-Beginn. Die Wahl in den USA wurde gottlob von den Wahlmännern einhellig bestätigt, wenn auch immer weiter bezweifelt vom abgewählten Präsidenten mit seinen über siebzig Millionen Wählern. Bezweifelt sogar von Teilen der GOP, auch wenn der Senatsoberste, Mitch McConnell, sich ergeben hat.
Gottlob aber auch: Der Dialog des President-elect mit dem Ausland funktioniert weitgehend. Alle sind froh über die Rückkehr zur zivilisierten Kommunikation. Es wird ewig ein Rätsel bleiben, wie eine grande nation wie die amerikanische sich eine Herrschaft per Twitter vom nächtlichen Sofa aus gefallen lassen konnte.
Nicht beruhigt hat sich dagegen die internationale Kulturgesellschaft. Die Verwilderungen nehmen eher noch zu. Seit einigen Wochen streiten sich vornehmlich deutsche Gruppen um die Frage, ob es deutsche Kritik an israelischer Politik geben darf. Ob der sogenannte BDS zu Boykottierungen israelischer Produkte aufrufen darf. Ob dem BDS zugewandte Kulturmenschen finanziert werden dürfen, um derartige Ansichten zu vertreten. Über fünfzig Kulturinstitutionen haben den Aufruf „GG 5,3“ unterzeichnet, an die tausend Intellektuelle haben seither unterschrieben.
Was bedeutet dieser Streit, der ja nur einer ist unter vielen? Barbara Stollberg-Rilinger hat soeben in der FAZ die Kombattanten ermahnt, nicht vorschnelle Lager zu bilden, sondern differenziert zu diskutieren. So vernünftig diese Ermahnung, so realpolitisch naiv könnte sie wirken. Wem könnte Kritik an israelischem Handeln willkommener sein als der AfD?
Seit dem ostdeutschen Kunstgriff namens Pegida arbeiten Teile der deutschen Öffentlichkeit an der Herstellung einer Freund-Feind Szene, und damit am Übergang vom Dialog zum Duell – siehe meinen früheren Eintrag dazu. Es ist ein politisches Kalkül aus dem Magazin einer machtwilligen, wenn nicht kampfbereiten Meute. Petra Gehring vermittelt in ihrem Buch „Über die Körperkraft der Sprache“ (2019) einen Eindruck vom Kult der Sprechakte. Teils stammen sie aus jugendlichem Engagement, teils aus berüchtigten Archiven der Rechtspolitik, inspiriert von Carl Schmitt.
Eine öffentliche und scharfe Diskussion der deutschen Kulturelite mit israelischen Instanzen läuft Gefahr, Meuten zu inspirieren, die wir nicht und nie mehr in Deutschland erleben wollen. Man kann nur hoffen, dass die kommende Wahl in Israel andere Konstellationen zustandebringt. Vielleicht wie in den Vereinigten Staaten.
22. November – Der "Möglichkeitsraum" wird zum "Enttäuschungsraum"
Der Stanford Literaturwissenschaftler Adrian Daub äussert sich in seinem neuen Buch "Was das Valley denken nennt" über die Idee des Gesprächs dort, wo nur noch von technisch inspirierter Kommunikation die Rede ist, also Silicon Valley. Niemand hat diese Weltkommunikation einschneidender formatiert als die Erfinder von Facebook und allem, was daraus folgte. Die Menschen haben anfangs naiv und gierig nach der Möglichkeit gegriffen, uneingeschränkt von Raum und Zeit, Moral und Wissen, zu kommunizieren.
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Die neuesten politischen Entwicklungen haben aus diesem "Möglichkeitsraum" einen "Enttäuschungsraum" gemacht. Seit Trumps unendlichem Twitter-Missbrauch muss der Werkzeugkasten umgebaut werden. Dass es dazu erschreckende Technik gibt, wissen wir aus China. Demokratie und Diktatur arbeiten längst einander zu. Im Westen ertönt der Ruf nach Zensur, im Osten gibt es sie schon. Wie wird es erst unter dem kommenden Klimadiktat werden?
18. November 2020 – Siegesgeheul bei Trump und seinen Fantruppen
Zehn Tage später: noch immer nur Siegesgeheul bei Trump und seinen FanTruppen. Zehntausend marschierten letzten Sonntag nach Washington und skandierten ihre Sprüche: die Einmütigkeit eines body politic, der keine Repräsentanz, nur Verkörperung kennt. Ist es der uralte Streit der Reformatoren um das Abendmahl, um die Eucharistie , um den göttlichen Sprechakt: "dies ist mein Leib" - was der linguistische Philosoph George Steiner "real presence" nannte? Vielleicht kein Wunder, bei so viel evangelikaler Unterstützung des Präsidenten. Also muss er liefern bis zum bitteren Ende.
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Christliche Motive poppen auch hierzulande auf - wie gestern in einem politischen Lehrfilm von Andreas Veiel namens "Ökozid". Die Erde als Lebewesen, die Erde mit Menschenrecht. Gibt es dafür schon Lehrstühle? Hier wurde einmal mehr Angela Merkel als Quelle alles Bösen vorgestellt , doch gleichzeitig als wahrer Jesus. Das Drehbuch verlangt von der unschön aufgedunsenen Person ein Schuldeingeständnis und hohe Zahlungen an die klimazerstörten Länder. Was mit dem Geld geschieht? Erfährt man nicht. Hauptsache, es fliesst. "Dies ist mein Blut" - wäre der zugehörige Sprechakt.
8. November 2020 – Siegesgeheul bei Trump und seinen Fantruppen
Tatsächlich: Joe Biden und Kamala Harris haben diese historische Wahl gewonnen. Noch weigert sich Trump dies anzuerkennen. Mit rund 74 Millionen Wählern hat Obamas ehemaliger Vizepräsident einen Rekord aufgestellt. Noch stehen ihm rund 70 Millionen Trump Anhänger gegenüber; und diese Anhänger müssen nun, wie Trump selber, die Niederlage einräumen. Eine Niederlage einräumen: das wäre die Gipfelleistung einer Gesprächskultur, die vor dem Abgrund des Duells innehält und das menschliche Sprechenkönnen über das menschliche Zuschlagen- und Tötenkönnen erhebt Das Subjekt will nicht wieder vierbeinig werden: Geisteskraft steht aufrecht gegen Körperkraft.
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Bis heute denken wir, dass Argumente dieses Innehalten möglich machen. Natürlich müssen es bessere Argumente sein, und es muss Einsicht erzeugt werden. Sprachakustisch heisst innehalten: verstummen, eine Pause machen. Nachdenken. Haben wir heute dafür eine Kultur? Das philosophische Muster für dieses Nachdenken liefert uns immer noch Platon, genauer, sein Lehrer Sokrates. Was lehren die berühmten sokratischen Dialoge? Sie lehren den Selbstzweifel. Einer der ungeheuersten Lehrsätze der Philosophiegeschichte. Nur wer einem anderen Argument recht geben und das eigene zurücknehmen kann, könnte unblutige Niederlagen selbst in der größten politischen Arena hinnehmen.
Wie aber kommen Argumente zustande?
Politisches Handeln wird heute au fond von der Wissenschaft diktiert. Auf Wissenschaft als Religion, die von "Priestern" verkündet und bedingungslos geglaubt wird, läuft mehr und mehr auch unser alltägliches, säkulares Handeln zu. Aber man weiss immerhin, dass Argumente bestritten werden können. Jeder Supermarkt zeigt, dass es unterschiedliche Ansichten gibt - etwa in Form von Waren. Was wir wählen und kaufen, finden wir im Angebot mit Argumenten begründet. Je mehr Waren, desto mehr Argumente. Vielleicht das wichtigste ist der Preis. Das aber verwirrt die Käuferschaft. Immer öfter werden deshalb Waren zertifiziert - eine Auslese findet statt. Das beste Angebot /Argument soll siegen. In der Warenwirtschaft entspricht dies natürlich der Werbung, aber nicht unbedingt der Aufklärung.
Instanzen der Zertifizierung sind im ökonomischen wie auch politischen Leben unter anderem die Medien. Sie kreieren die populäre Basis der Wissenschaftsreligion: die Wissensgesellschaft. Hier finden Meinungskämpfe statt, hier kursieren die viel beschworenen "Blasen" der sozialen Netzwerke, und teilweise wieder mächtig die Religionen, die Sekten und abergläubische Teilchen der Sozialität. Seit altersher aber auch: die Anhängerschaft an mächtige Führer. Das Prinzip der Führerschaft wird heute auf der untersten Basis des Konsums eingeübt: durch sogenannte "Influencer". Von diesen werden nicht nur einzelne Waren angepriesen, sondern der ganze Mensch mit Frisur, Kleidung, Gestik, Mimik, physischer Erscheinung. "Influencer" sind Phänotypen mit eigenem Habitus. Sie könnten allesamt in ein casting der Filmindustrie gelangen - und tun dies wohl auch. Auch Trump wurde erst gecastet und dann aus dem Filmbusiness in die Wirklichkeit geschickt als gigantischer Influencer. Es wurde politisch der Gipfel der Verachtung des Volkes. Wie konnte sich bloss die amerikanische Nation- und schliesslich die halbe Welt- von einem vielfach kriminellen Mann per Twitter regieren lassen?
Wie aber kommen Argumente zustande?
Politisches Handeln wird heute au fond von der Wissenschaft diktiert. Auf Wissenschaft als Religion, die von "Priestern" verkündet und bedingungslos geglaubt wird, läuft mehr und mehr auch unser alltägliches, säkulares Handeln zu. Aber man weiss immerhin, dass Argumente bestritten werden können. Jeder Supermarkt zeigt, dass es unterschiedliche Ansichten gibt - etwa in Form von Waren. Was wir wählen und kaufen, finden wir im Angebot mit Argumenten begründet. Je mehr Waren, desto mehr Argumente. Vielleicht das wichtigste ist der Preis. Das aber verwirrt die Käuferschaft. Immer öfter werden deshalb Waren zertifiziert - eine Auslese findet statt. Das beste Angebot /Argument soll siegen. In der Warenwirtschaft entspricht dies natürlich der Werbung, aber nicht unbedingt der Aufklärung.
Instanzen der Zertifizierung sind im ökonomischen wie auch politischen Leben unter anderem die Medien. Sie kreieren die populäre Basis der Wissenschaftsreligion: die Wissensgesellschaft. Hier finden Meinungskämpfe statt, hier kursieren die viel beschworenen "Blasen" der sozialen Netzwerke, und teilweise wieder mächtig die Religionen, die Sekten und abergläubische Teilchen der Sozialität. Seit altersher aber auch: die Anhängerschaft an mächtige Führer. Das Prinzip der Führerschaft wird heute auf der untersten Basis des Konsums eingeübt: durch sogenannte "Influencer". Von diesen werden nicht nur einzelne Waren angepriesen, sondern der ganze Mensch mit Frisur, Kleidung, Gestik, Mimik, physischer Erscheinung. "Influencer" sind Phänotypen mit eigenem Habitus. Sie könnten allesamt in ein casting der Filmindustrie gelangen - und tun dies wohl auch. Auch Trump wurde erst gecastet und dann aus dem Filmbusiness in die Wirklichkeit geschickt als gigantischer Influencer. Es wurde politisch der Gipfel der Verachtung des Volkes. Wie konnte sich bloss die amerikanische Nation- und schliesslich die halbe Welt- von einem vielfach kriminellen Mann per Twitter regieren lassen?
6. November 2020 – Siegesgeheul bei Trump und seinen Fantruppen
Nur ein Tag genügte, um das Bild fast komplett zu ändern. Durch die Briefwahl gelangt Biden offenbar doch noch zum Sieg - gottlob melden sich Menschen, die lesen und schreiben können. Anders wäre unsere Welt nicht mehr zu regieren. Die Waffen der gefürchteten "proud boys" haben bisher weitgehend geschwiegen. Die Lügen des Präsidenten zum angeblichen Wahlbetrug ermüden die Welt - selbst Fox News hat gestern schon bessere Zahlen für Biden genannt. Und doch trifft natürlich jede Sorge über die kommenden Tage zu. Wie wird die Machtübergabe aussehen? Am 1. November schrieb die NYT: "Peaceful transitions of power require political will. In the end, people on one side must step back from the brink. If history is any guide, they will."
4. November 2020 – Der Präsident erklärt seinen Sieg
Die Wahllokale in Amerika sind geschlossen, die Auszählungen laufen unter weltweit gespannter Aufmerksamkeit. Der Präsident kann erstaunlich gute Zahlen vorweisen; schon verlangt er tatsächlich ein Ende der Wahl, vor allem der Briefwahl, und erklärt seinen Sieg. Den Supreme Court, mit der neuen 3:6 Verteilung von Sitzen, betrachtet er als juristischen Handlanger, seine bewaffneten Freunde bringen sich in Stellung. So also sieht die Missachtung der geschriebenen Gesetze aus - wenn nicht sogar ein Angriff auf die Demokratie: mittels Lüge. Und mittels "hate speech".
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Die Beobachter des europäischen öffentlich-rechtlichen Rundfunks erinnern sich an die Ursprünge um 1995, als ein Mann namens Rush Limbaugh mit heiserer Stimme das FOX News Modell erfand. Heute sieht man, dass es ein eigenes business war - ein unerhört einträgliches Geschäft mit dem Hass. Also Handel - statt Dialog? Und Wirtschaftskrieg statt Duell? Zugegeben, auch die demokratischen Medien haben beste Geschäfte mit allen Krisen der letzten Monate und Jahre gemacht. Niemals hatte die New York Times so viele Abonnenten, ähnlich die andern Medien, zu schweigen von facebook, instagram, whatsapp, twitter etc. So schlecht es dem "Rust Belt" geht, so gut geht es Silicon Valley. Wer vom armen Amerika spricht, das sich aus aller Weltpolitik schleicht, hat oder will die digitale Weltherrschaft der Vereinigen Staaten vergessen. Ist sie der Elefant im Raum?
1. November 2020 – Die Weltpolitik als schiere Machtpolitik
Natürlich blieb der Aufstand in Belarus bisher erfolglos; die Medienszene wird momentan von den Diktatoren Erdogan und Trump beherrscht. Wir hören, dass die Türkei Söldner nach Bergkarabach schickt, dass Putin diesen Akt "erwidert": hier herrscht also das Duell. Petra Gehring spricht in ihrem Buch über die "Körperkraft von Sprache" von einem "Übergang in die gleichsam blind werdende Sprache einer nicht mehr im metaphorischen Sinne >tödlichen< Wut". Diesen Übergang inszeniert die Weltpolitik als schiere Machtpolitik inzwischen fast täglich. Seit Jahren brechen Konflikte um Wahlergebnisse auf, seit Jahren knirscht der demokratische Überbau einer quantitativen Ermittlung von Volksbegehren mit anschliessender Sprachmacht der Sieger in den Fugen. Warum? Weil sich zwischen Dialog und Duell die Lüge schiebt. Medial hochgerüstet, sprengt sie die Stärke des Rechts für das Recht des Stärkeren.
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Bereit zum Duell - und zu maximaler Lüge - ist man jedenfalls im Wahlkampf der USA: Tausende von bewaffneten Trumpisten wollen eine Niederlage ihres Abgottes nicht hinnehmen. Trump selber kennt nur noch "hate speech", verlangt ein Ergebnis sofort nach Schliessung der Wahllokale - auch er unterwegs ins Duell. Aber wer wäre der Gegner? Sind Demokraten bewaffnet, führen sie eine Miliz hinter sich her, oder glauben sie an ein Wunder? Welche Werkzeuge hat die Demokratie ausser der Sprache? Seit Monaten versuchen die demokratischen Medien die unbeschreiblichen Irreführungen aus aller Welt richtig zu stellen. Sie navigieren mit einem dialogischen Goldstandard namens Wahrheit, Aufrichtigkeit, Information für alle. Aber die entscheidende Majorität ihnen ging womöglich gerade verloren: bei der Neubesetzung des Supreme Court. Vor diesem "jüngsten" Gericht und seinen Ablegern muss sich die Wahl nun entscheiden.
Oktober 2020 – vierte Woche, fortgesetzt
Die Frage nach amerikanischer Gesprächskultur ist also beantwortet. Es geht nicht um Dialoge, sondern um mehr oder minder geordnete Duelle. Der zweite und letzte Schlagabtausch zwischen Trump und seinem Gegner Biden war so ein Dialog hart am Rande des Duells: institutionell schwerst gesichert, personell wie technisch. Zur Erinnerung: Ein Duell fand früher statt, wenn ein Dialog nicht mehr möglich schien, wenn Sprache erstarb. Das Duell zielte auf physische Vernichtung des Gegners. Es war eingebunden in eine Institution mit festen Regeln – auch wenn es selber strafbar war.
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Oktober 2020 – vierte Woche
Amartya Sen, der indische Wirtschaftsphilosoph, erhielt am 18. Oktober 2020 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. In einer etwas gespenstischen Szene in der Frankfurter Paulskirche hielt Bundespräsident Steinmeier die laudatio in absentia, und der Preisträger dankte ebenfalls in absentia. Sein Hauptthema war die Freiheit der Rede. Er kritisierte die Unfähigkeit der autokratischen Regierungen, einen Dialog mit der kritischen Opposition zu führen, die momentan weltweit in riesigen Menschenmengen auftritt und immer wieder brutal zurückgetrieben und unterdrückt wird. Amartya Sen erinnerte an Mahatma Gandhi, und dessen Konzept des gewaltfreien Widerstands, das tatsächlich Erfolg hatte, aber oft eben auch nicht. Gandhi saß jahrelang im Gefängnis.
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Auch Timothy Garton Ash hat 2016 in einer Plattform namens Free Speech: „Ten Principles for a Connected World“ die politische Interaktion zwischen Regierung und Opponenten als lebenswichtigen Streit bezeichnet, wie auch seine Kollegin Chantal Mouffe, eine Marxistin mit Sympathie für Carl Schmitt. Vor dem Kernstück des „hate speech“ versagten sie beide. Gerade eben wurde in Frankreich ein Geschichtslehrer enthauptet, von wütenden Islamisten, weil er die Mohammed Karikaturen aus Charlie Hebdo gezeigt hatte, als Beispiel für Redefreiheit. Es war eine tragisch entgleiste Interaktion. Dialog kann man sie nicht nennen. Aber wie sonst? NOCH MEHR
Die deutsche Philosophin Petra Gehring erörterte vor kurzem in einem Buch über Sprechakte das, was sie „die Körperkraft der Sprache“ nannte. Sie erwähnte Gesang, Gebrüll, und vor allem das Skandieren in der Menge. Sie nannte es „ein Stück Entfesselung der dialogischen Normalität sowie auch des seine Worte allein verantwortenden Individuums.“ Dieser Sprechakt „zeigt: nein: stellt aus und feiert, was ihm Macht verleiht.“ Skandierende Massen wollen keinen Dialog – oft geht es nur um Hass und Wut. Zur Wortwerdung bräuchten sie individuelle Sprecher:Innen, die ihre Einstimmigkeit erwiderungsfähig machen. Und diese Sprecher:Innen brauchen wiederum individuelle Hörer’Innen, die diese Einstimmigkeit erwidern könnten. Beide Individuen müssen ferner für die von ihnen artikulierten Menschengruppen anerkannt repräsentativ sein. Für diese unerhört komplexe Sachlage gibt es - noch - keinen Ausdruck. Es sei denn, man spricht von Demokratie – aber auch dieses Wort ist viel zu ungenau. Wie sollte man diese Interaktion also nennen?
Die deutsche Philosophin Petra Gehring erörterte vor kurzem in einem Buch über Sprechakte das, was sie „die Körperkraft der Sprache“ nannte. Sie erwähnte Gesang, Gebrüll, und vor allem das Skandieren in der Menge. Sie nannte es „ein Stück Entfesselung der dialogischen Normalität sowie auch des seine Worte allein verantwortenden Individuums.“ Dieser Sprechakt „zeigt: nein: stellt aus und feiert, was ihm Macht verleiht.“ Skandierende Massen wollen keinen Dialog – oft geht es nur um Hass und Wut. Zur Wortwerdung bräuchten sie individuelle Sprecher:Innen, die ihre Einstimmigkeit erwiderungsfähig machen. Und diese Sprecher:Innen brauchen wiederum individuelle Hörer’Innen, die diese Einstimmigkeit erwidern könnten. Beide Individuen müssen ferner für die von ihnen artikulierten Menschengruppen anerkannt repräsentativ sein. Für diese unerhört komplexe Sachlage gibt es - noch - keinen Ausdruck. Es sei denn, man spricht von Demokratie – aber auch dieses Wort ist viel zu ungenau. Wie sollte man diese Interaktion also nennen?
Oktober 2020 – dritte Woche
In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gab es unter dem irreführenden Stichwort "Körper" eine erhellende Diskussion über das Diskutieren. Ute Frevert, Historikerin der Gefühle, betonte, dass man in der Demokratie nicht wie Carl Schmitt von Feind zu Feind spreche sondern von Gegner zu Gegner. Ein Grundvertrauen hindere den Umschlag in schiere Körperlichkeit - sprich Prügel oder Totschlag. Dieses Grundvertrauen verschwindet soeben in USA. Hat es dort je wirklich geherrscht? Kathrin Schmidt, die Autorin, verbat sich den Modus der "Gesinnungsbeweiskultur" in den Debatten - dem widersprach die Kulturkundlerin Eva Horn aber mit Rekurs auf die Usancen der Wissenschaft: hier müsse man sich einig werden können, nämlich über das, was erwiesenermassen der Fall sei. Niemand mochte den Sprung zu dem Fazit leisten: dass wir in eine Wissenschaftsreligion treiben, die - jedenfalls für die meisten - zur Glaubenssache werden muss, jedoch nur für wenige Priester diskussionseffizient bleiben kann, nämlich dann, wenn sie die Beweisverfahren beherrschen und die Öffentlichkeitstechnologie dazu.
Oktober 2020 – zweite Woche
Anhaltende Beklemmung allerseits: Trump wurde nach seinem Auftritt von Covid 19 befallen, liess sich ins Militärspital einweisen, dort aber nicht halten, kehrte vielmehr zurück ins Weisse Haus. Mit demonstrativer Geste riss er sich dort vor den Kameras die Maske vom Gesicht: wessen Gesicht war es nun? Immerhin hat sein Vize Pence inzwischen ein manierlicheres , aber unwichtiges TV-Duell mit Kamara Harris absolviert; unwichtig, weil die Parteien im Weissen Haus derweil machtkampfbedingt die dringend benötigten Coronahilfen gestrichen haben. Offenbar werden nun bis zur Wahl tausende Menschen sterben, weil medizinisch unversorgt. Es sind Menschenopfer mexikanischen Ausmasses.
Oktober 2020 – erste Woche
Das Drama nimmt seinen Lauf. Das erste Duell zwischen Joe Biden und Donald Trump zur kommenden Wahl verlief am 29. September genauso entsetzlich, wie vorhersehbar. Niemand wird sagen können, er habe das Ende der menschengemachten sprachlichen Kommunikation an höchster politischer Stelle nicht erlebt, alle Zeitgenossen sind Zeuge, so unfreiwillig auch immer. Wer dieses politische Format jetzt funktionstüchtig machen muss, ist nicht zu beneiden. Ausgerechnet ein Genosse aus Fox News soll jetzt einen wütenden Clown bändigen - weil die Grand Old Party nicht von ihm lassen will.
September 2020
Laut bis dröhnend sind die Importe aus USA fast seit jeher. Unsere Eltern oder Großeltern erlebten entsetzt ein Theaterstück wie „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ (1962) von Edward Albee, 1966 als Film mit Elizabeth Taylor und Richard Burton – wie konnten sich zivilisierte Menschen derart in Hass reden. Die Kehrseite, das verrückte einander-anschweigen, hatte diese Generation schon vorher bei Samuel Beckett erlebt: war Sprache überhaupt noch zu retten?
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Und erst recht heute: Nicht nur die dauernde Ferngesprächslage der Handykultur, sondern auch die Einbettung aller Äußerungen in Fadenkreuze von wütend emotionaler Zu- oder Abneigung, Teilung oder Löschung, Verrat oder Geheimhaltung, Anonymität oder Authentizität entscheiden über das gegenwärtige Mitteilungsverhalten von Mensch zu Mensch. Hass hat sich breit gemacht, Unflätigkeit kursiert massenhaft, alles wird denkbar wegen massenhafter Verkleidung und abgründiger Umsturzpläne. Was tritt hier zutage?
Erinnern wir uns: Schon vor 1900 spülte die sogenannte „Neue Musik“ unaufhaltsam einen riesigen Kontinent an Dissonanzen und Explosionen ins öffentliche Bewusstsein; eine zerrissene Landschaft, die bis heute nur qualvoll vernommen oder besucht wird. Gäbe es nicht eine weltweite Tradition der klassischen Harmonielehre, eine weltweite Instrumental- und Gesangskultur, eine Freude am Tanz schlechthin – wir wüssten wahrscheinlich nichts von lustvoller leibsozialer Interaktion beider Geschlechter. Als John Cage 1952 sein Meisterstück 4:33 zur Aufführung brachte, hatte ein philosophischer Kapitän im Narrenkleid das Ruder herumgeworfen. Nicht sprechen, sondern zuhören, lauschen, wäre vielleicht die Rettung.
Erinnern wir uns: Schon vor 1900 spülte die sogenannte „Neue Musik“ unaufhaltsam einen riesigen Kontinent an Dissonanzen und Explosionen ins öffentliche Bewusstsein; eine zerrissene Landschaft, die bis heute nur qualvoll vernommen oder besucht wird. Gäbe es nicht eine weltweite Tradition der klassischen Harmonielehre, eine weltweite Instrumental- und Gesangskultur, eine Freude am Tanz schlechthin – wir wüssten wahrscheinlich nichts von lustvoller leibsozialer Interaktion beider Geschlechter. Als John Cage 1952 sein Meisterstück 4:33 zur Aufführung brachte, hatte ein philosophischer Kapitän im Narrenkleid das Ruder herumgeworfen. Nicht sprechen, sondern zuhören, lauschen, wäre vielleicht die Rettung.
August 2020
2020 war wohl zu spät. Schon 25 Jahre zuvor hatte es einen ersten, dramatischen kommunikativen Kollaps gegeben – dieses Jahr 1995 könnte überhaupt in die Geschichte der menschengemachten Gesprächszerstörung eingehen. Seit der berüchtigten Schrift von Carl Schmitt über „Politische Romantik“ 1919, sondert eine Priesterkaste des Streits auch sprachlich Freunde von Feinden; längst bilden sie eine intellektuelle Kolonne. Wer nicht versteht, dass es hier um Machtkämpfe geht, und keineswegs um Verständigung, ist verloren.
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Immer feinere Werkzeuge des gegenseitigen Betrugs werden sichtbar, immer größere Reichweiten der Sabotage. Dass ein Mann wie Julian Assange seit Jahren vor sich hin vegetiert, von einem Gefängnis zum andern geschickt und mit drohender Ausweisung gefoltert wird, beleuchtet die brutale Innenausstattung der digitalen Welt nur schwach, aber immerhin deutlich. Gesprächszerstörung findet aber auch anderwärts statt, nämlich durch Bildkonsum. Der Satz „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“, gilt eben auch umgekehrt: ein Bild zerstört mehr als tausend Worte – eben weil diese nicht mehr gebraucht werden. Und wirklich: Neben den organischen Gebilden in Flora und Fauna sterben vor unsern Augen bekanntlich auch Sprachen, angeblich dreitausend sind bedroht. Internetdominanz befördert nicht nur der Silicon Valley Speech sondern auch das Chinesische, das die Bildfabrikation seit langem raffiniert beherrscht, mit alltäglichen Milliarden von Emoticons oder Emojis, und den überwältigenden Fortschritten der face detection industry (siehe meine Gesichtsrundschau).
Szenenwechsel: Vor kurzem erschien hierzulande von Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun ein sanfter Ratgeber: „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ – als Gegenstück zu Garton Ash, weniger normativ als vielmehr Bestandsaufnahme der unerhört komplexen Situation. Autoren wie Pörksen und von Thun stehen mit dem Wort „Dialog“ in einer eigenen, langen europäischen Tradition. Sie beginnt mit den Griechen, mit Sokrates und seinem Schüler Platon und dessen ausgepichter Kunst des Diskutierens. Seit der Aufklärung, seit Goethe und Hölderlin, gab es den deutschen Philhellenismus mit einem geradezu metaphysischen Gesprächskult. Um 1900 erwachte mit Heinrich Schliemann ein nahezu leibhaftes griechisches Selbstbewußtsein unter den deutschen Bildungsbürgern: ausgerechnet die Deutschen etablierten nach 1918 und mehr noch nach 1945 eine Kultur des Dialogs als Kulturtechnik des Friedens. Jürgen Habermas wurde der Erbe. Sein Hauptwerk, die „Theorie der kommunikativen Vernunft“ von 1981 warf die herrschaftsfreie, argumentativ verbindliche Interaktion unter sprechenden und denkenden Menschen wuchtig in die philosophische Waagschale. Ein idealistischer Entwurf, aber durchaus im Kontext der innigen deutschen Tradition. Wüßte man nicht, welche ungeheure Weltgeltung Habermas bis heute erlangt hat, welche Leserschaft noch das letzte Werk des 93jährigen von heute aufmerksam liest, man könnte an einen deutschen Holzweg glauben. Aber es ist kein Holzweg – sondern die leise Stimme der Vernunft.
Szenenwechsel: Vor kurzem erschien hierzulande von Bernhard Pörksen und Friedemann Schulz von Thun ein sanfter Ratgeber: „Die Kunst des Miteinander-Redens. Über den Dialog in Gesellschaft und Politik“ – als Gegenstück zu Garton Ash, weniger normativ als vielmehr Bestandsaufnahme der unerhört komplexen Situation. Autoren wie Pörksen und von Thun stehen mit dem Wort „Dialog“ in einer eigenen, langen europäischen Tradition. Sie beginnt mit den Griechen, mit Sokrates und seinem Schüler Platon und dessen ausgepichter Kunst des Diskutierens. Seit der Aufklärung, seit Goethe und Hölderlin, gab es den deutschen Philhellenismus mit einem geradezu metaphysischen Gesprächskult. Um 1900 erwachte mit Heinrich Schliemann ein nahezu leibhaftes griechisches Selbstbewußtsein unter den deutschen Bildungsbürgern: ausgerechnet die Deutschen etablierten nach 1918 und mehr noch nach 1945 eine Kultur des Dialogs als Kulturtechnik des Friedens. Jürgen Habermas wurde der Erbe. Sein Hauptwerk, die „Theorie der kommunikativen Vernunft“ von 1981 warf die herrschaftsfreie, argumentativ verbindliche Interaktion unter sprechenden und denkenden Menschen wuchtig in die philosophische Waagschale. Ein idealistischer Entwurf, aber durchaus im Kontext der innigen deutschen Tradition. Wüßte man nicht, welche ungeheure Weltgeltung Habermas bis heute erlangt hat, welche Leserschaft noch das letzte Werk des 93jährigen von heute aufmerksam liest, man könnte an einen deutschen Holzweg glauben. Aber es ist kein Holzweg – sondern die leise Stimme der Vernunft.
Juli 2020
Seit dem 28. Juli 2020 gibt es einen neuen podcast, aus der Taufe gehoben und moderiert von Michelle Obama. Angesiedelt auf Spotify, eingerichtet als Gespräch mit immer wieder andern Menschen, beginnt er mit – ja, natürlich, Barack Obama. Wann haben wir uns zuerst gesehen? Wie war das? Die beiden unterhalten sich höchst lässig. Und die Medien (ausser Fox News) sind begeistert. Sie finden Spotify ebenso im Rampenlicht wie die Spitzenleute der Demokraten, sie müssen nicht wieder Hillary sehen sondern eben die herausragende Vertreterin der schwarzen Minderheit, die heute so hart umkämpft wird. Und sie sehen: die attraktive Mutter zweier Kinder. Und alles im Vorfeld der Wahlen. Wird Michelle womöglich gegen Trump kandidieren? Nein, ich höre, sie hat das abgelehnt, gerade wegen der unglücklich ehrgeizigen Hillary. Aber wie repräsentativ ist dieser lockere speech? Ist er nicht eine unerhörte Ausnahme in unserer weltweit verwilderten Kommunikationsszene.
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Szenenwechsel: ebenfalls in den USA erschien soeben ein Buch von Suzanne Noessel, eine der CEOs des amerikanischen PEN: „Dare to Speak. Defending Free Speech for all“. Seit Trumps Amtsantritt bewacht dieser PEN die Szene der Medienkontrolle und – manipulation durch die neue Administration. Längst sind die Amerikaner auf demselben Niveau wie China: der permanente Fake-Vorwurf der Republikaner führte zum Sterben zahlreicher regionaler Zeitungen, denen niemand mehr glauben will oder darf. Journalisten werden eingeschüchtert, entlassen, verunglimpft. PEN America blickt auch über die Grenzen und berichtet von derartigen Attacken weltweit. Das öffentliche Gespräch ist verwüstet. In weiter Ferne liegt der Versuch von Timothy Garton Ash über Redefreiheit – an der er 2016 noch hing, idealistisch ahnungslos über die kommenden Entwicklungen. Zehn Gebote stellte er auf, die ein sozial fruchtbares kommunikatives Verhalten ermöglichen sollten. Die Utopie hieß: Redefreiheit in der digitalen Welt, bei gleichzeitiger Bändigung der negativen Auswüchse, die eine soziale Öffentlichkeit mehr und mehr lähmte. Konnten und würden facebook et aliae gleichzeitig zensieren und Gewinn erwirtschaften?