Gesichtsrundschau
November 2016
Soeben erschienen ist ein Tagungsband aus Lausanne über "Physiognomisches Schreiben. Stilistik, Rhetorik und Poetik einer gestaltdeutenden Kulturtechnik", hg. von Hans-Georg von Arburg, Benedikt Tremp und Elias Zimmermann. Es ist ein Band aus der Reihe "Das unsichere Wissen der Literatur" (Rombach in Freiburg i.Br.), die hier nun also den Topos des ungefähren und trügerischen Wissens aufnimmt, den wir mit der physischen Wahrnehmung assoziieren müssen. Das weitgespannte Themenfeld reicht von Lavater bis zu Kafka, von Handschriften- über Architektur - Tanz- und Stimmdeutung. Dass bei einer Publikation aus der Schweiz wieder der Terminus "physiognomisch" in einem neutralen Sinne verwendet wird, ist zu begrüßen. Er hat bekanntlich eine enorme Begriffsgeschichte hinter sich und es ist töricht, ihn zu vermeiden, wie im neuen Heft der Zeitschrift Fotogeschichte (140, Jg.36), zumal wenn dort Forschungen zur Charakterdeutung in den 1930er Jahren vorgestellt werden. Tatsächlich wird in diesem Wintersemester 2016/17 auch in Berlin eine ganze Ringvorlesung über Physiognomik in der Antike durchgeführt: ein inzwischen gut beforschtes Gebiet, das aber immer noch weitere Präzisierungen im orientalischen Bereich verlangt.
Wie dicht der physische und der metaphorische Begriff des Gesichts aneinander gefesselt bleiben, kann man am Management von Facebook verfolgen. Die dringende Bitte, auf Facebook keinen gesichtszerstörenden hate speech zuzulassen, entspricht dem Bewußtsein einer nahen Beziehung. Dass es gleichwohl keine identische ist, musste man jüngst in der Diskussion um die Burka immer wieder verteidigen. "Gesicht zeigen": so hiess eine Bewegung, die im Jahr 2002 von Uwe Carsten Heye, einem hochrangigen Politiker der SPD, ins Leben gerufen wurde. "Gesicht zeigen" sollte man gegen Rassismus und Antisemitismus - im Sinne von moralischer Standfestigkeit gegen beides. Von einer Nudität war keine Rede. Die Burkafeinde, die nur noch nackte Gesichter sehen wollen, haben den Satz in sein Gegenteil verkehrt, zur allgemeinen Konfusion.
Oktober 2016
Das Rad der physiogonomischen Hysterie dreht sich immer schneller. Am 1. Oktober teilte die Neue Zürcher Zeitung mit, dass sich als Spiel des Jahres ein Game namens "Pie Face" herausgestellt hat. Die NZZ schreibt: "Es wurde 1968 erstmals von Hasbor veröffentlicht, die Lizenz ging später aber an Rocket Games über. Das Spiel geriet in Vergessenheit, bis in der Vorweihnachtszeit 2014 ein Video auf Facebook über 30 Millionen mal geteilt wurde: Es zeigt den Barbier-Salon-Besitzer Martin O'Brien aus dem schottischen Wishaw, wie er mit seinem Enkel Pie Face spielt, dabei viel Spass hat und Schlagrahm mitten ins Gesicht bekommt. (...) Das Ganze ist ein Kinderspiel und soll Spass machen, mehr nicht." Und doch wurde es ein Millionenseller nicht nur für Kinder. Man könnte sagen: es hat endlich Facebook um ein Kinderformat erweitert. Bedenkt man, dass noch vor rund 6 Jahren deutsche Studenten das Wort Facebook nicht übersetzen konnten, weil der Name für sie nur ein Laut war, ist das doch ein Fortschritt.
Ernster ist schon die neue "Enke App". Sie wurde vor ein paar Tagen vom DFB vorgestellt, der Name stammt vom ehemaligen Nationaltorwart Enke. Ein Torwart muss Schüsse ins Tor abwehren, so wie wir normalerweise doch auch Torten vor dem Gesicht aufhalten. Die Enke App. gehört zur Gruppe der gesichtserkennenden Computer, des "Affective Computing", dem sich vor allem das Institute for Creative Technologies in LA widmet. Hier werden auch robotische Therapeuten entwickelt, wie die frühe Eliza, denen sich Menschen offenbar nicht ungern eröffnen, weil sie Mimik und Stimme der Patienten genauestens registrieren und deuten können. Auch Lehrer werden inzwischen so hergestellt, die auf die Schüler mehr Eindruck machen, weil sie irgendwie lustig und neutral wirken. "Overtrust" nennt man diese Einstelllung, die vom Fraunhofer Institut hierzulande erforscht und genutzt wird. Der Ethiker Arne Manzeschke begleitet diese Entwicklungen. Er fürchtet weniger den Fortschritt der Technik als vielmehr die menschliche Bereitschaft, sich selbst als Maschine zu begreifen.
Geradezu atemberaubend in dieser Hinsicht ist das Interview mit den Chefs von Microsoft im SPIEGEL vom 15. Oktober. Nicht nur ist diesen Machern die soziale Welt völlig gleichgültig, sie sehen sie auch schon durch das Cloud Computing vollkommen umgestaltet. Wie die Welt sich den Strom besorgen soll, den man zu all diesen smart objects benötigt, bleibt unbesprochen.
Juli 2016
In der FAZ vom 8. Mai 2016 erschien ein langer Artikel von Friederike Haupt: "Middelhoffs Lächeln. Was Journalisten in einem Gesicht lesen können. Oder wollen." Der Artikel bot ein wunderbares Beispiel für die dauerhafte Dienlichkeit physiognomischen Raisonnierens. Der ungeheure Sturz des einstigen Chefs von Bertelsmann zum Assistenten einer Behindertenwerkstatt in Bethel, geschildert am Leitfaden seines Siegerlächelns, das schliesslich aber doch in den letzten Krankheitszuständen verschwand. Der Sozialphilosoph und Anthropologe Helmut Plessner hat dem Lächeln 1950 eine eindringliche Studie gewidmet und diese mimische Kundgabe zu den eigentlich menschlichen gezählt, eben weil es so unendlich vieldeutig ist.Es ist die Miene eines "Mängelwesens", um Arnold Gehlen zu zitieren. Wie anders hat das noch Charles Darwin gesehen. Er fand das eigentlich humane Mienenspiel im Erröten: denn nur der kommunikative und schambereite Mensch kann sein Gegenüber wissen lassen, dass er weiss, was dieser von ihm denken könnte, ohne es zu sagen. Stellvertretend für eine ganze Klasse der sozialen Schichtung kannte Herr Middelhoff diese Miene offensichtlich nicht und strafte dergestalt Darwins Naturgesetz leider Lügen.
Zwei andere Artikel aus diesem Frühsommer lassen die technischen Wege der Gesichtserkennung erkennen. Die Münchner Messe namens "Automatica" hat die bestürzend weit gediehene Roboter Industrie vorgeführt: Demnach sollen alle möglichen Maschinen "Augen" erhalten, mit denen sie erkennen können, ob Menschen in gefährliche Nähe kommen, oder wie man sich sicher durch bestimmte Fertigungsstraßen bewegt. 58 Prozent der deutschen Unternehmen haben mit intelligenten Maschinen gute Erfahrungen gemacht; 86 Prozent erwarten weitere Verbesserungen. Die Roboter Generation 4.0 hilft schon in den Altenheimen Menschen tragen. Wenn sie erst Augen haben, wird es eine atemberaubende Kommunikation geben. - Umgekehrt haben russische Tüftler jetzt eine handliche Technik der absolut einseitigen Überwachung erfunden, eine App namens "FindFace", die es erlaubt, auf allen Fotos Gesichter den sonstwo notierten Biodaten zuzuordnen.
Bemerkenswert ist auch die neue Ausgabe der Zeitschrift Fotogeschichte. Heft 140 /2016 hat zum Thema Psychologie und Fotografie einen Aufsatz von Beatriz Pichel "Die Psychologie des Lächelns bei Georges Dumas." Alle Artikel des Heftes befassen sich mit Themen der älteren Physiognomik, verwenden aber den Terminus nicht mehr, nicht einmal in der Einleitung. Das ist schade, denn so wird der gewaltige Unter- und Überbau dieser Forschungen nicht mehr erkenntlich. Will man das - und wenn ja, warum?
Januar 2016
Inzwischen ist der Strom der Publikationen zum Thema Gesicht weiter angeschwollen - teils im Gefolge jener "Menschenfassung" (Walter Seitter), die uns Facebook qua "Gesichtsbuch" eingebracht hat, teils aber auch im Gefolge der fieberhaften Digitalisierung von großen Porträtarchiven, wie zuletzt im Forschungsverbund der drei großen Archive Weimar, Wolfenbüttel und Marbach, oder auch im Kunstarchiv von Nürnberg. Weithin besprochen wurden ausserdem die Bücher von Hans Belting, "Faces. Eine Geschichte des Gesichts" , Beck Verlag München 2014, sowie Valentin Groebner, "Ich-Plakate. Das Gesicht als Aufmerksamkeitsmaschine", Beck Verlag München 2015; leidenschaftlich diskutiert wurden die Mode des Selfie und als Gegenstück immer wieder die Gesichtserkennungstechnik im Zuge des Terrorismus. Gerade eben haben zwei Autoren zwei der wichtigsten visuellen Dispositive erörtert: Gerhard Paul, der Historiker aus Flensburg, mit seinem Buch "Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Bild und Bildpraxen in der Geschichte" Wallstein Göttingen 2016, sowie Sibylle Krämer mit ihrer jahrelangen Befassung mit der sogenannten "Diagrammatik" ( in Vorbereitung).
Alle sechs genannten Ansätze spiegeln aber allenfalls die deutsche Diskussion, die ja immer eine deutschschweizerische ist, wenn man den Einfluss von Lavater bedenkt; alle sechs zeigen allenfalls den Trend der letzten Jahre auf, der unübersehbar von technischen Direktiven beherrscht wird. Der lebendige Körper, zu dem ein Gesicht gehört, ist aus diesen Diskursen weitgehend verschwunden - während doch gleichzeitig der lebendige Mensch in Gestalt flüchtender,verletzter, schreiender und sterbender Personen mit Namen, Stimme und Geschichte unser Interesse und unsere Fürsorge mehr denn je verlangt. Wohin also gehört der faziale Diskurs? Man muss darüber nachdenken, mehr denn je.
Februar 2015
Wer sich ausdauernd mit der Geschichte der Physiognomik befasst, sammelt Material und Bibliographien in Buchform, Kopien und Datenbanken. Nachdem meine Büchersammlung von rund 450 Bänden im Getty Institute aufgenommen wurde, harrt nun noch mein Archiv aus einer inzwischen fast 25jährigen Forschung der sinnvollen Überführung in eine akademische Umgebung und der Zusammenführung mit anderen Leistungen dieser Art. Vor allem der Aachener Kunsthistoriker Peter Gerlach hat eine große Datenbank zu einer mehr als 2000jährigen Geschichte angefertigt, mit enormer Präzision Titel aufgenommen und Sekundärliteratur hinzugefügt. Auch in London gibt es einen solchen Überblick, die bekannte Wellcome Foundation hat ja jahrelange Workshops zum Thema finanziert. Weiterführende Nachrichten werden hier folgen!
Dezember 2014
Natürlich gibt es seit dem letzten Eintrag Fortschritte in Gesichtswirtschaft wie auch - wissenschaft. Die drei großen Bücher von Hans Belting, Sigrid Weigel und Daniela Bohde (rezensiert in literaturkritik.de) vertreten die These von der grundsätzlich artefaktischen Maskenhaftigkeit des Gesichts: dabei vergisst man freilich, dass jedes artefaktische Gesicht den Namen Gesicht nicht mehr verdient, da tote Augen kein Gegenüber erkennen können. Die astronomisch wachsende Zahl der artefaktischen Gesichter im medialen Raum vermehrt also die Zahl der Toten auf Erden sozusagen milliardenfach.
Jenseits dieser kunstwissenschaftlichen Spekulation gibt es aber natürlich die ebenfalls weiter wachsende Überwachungsneurologie; Valentin Groebner widmet sich ihr soeben; und weiter wächst auch die digitale Verarbeitung der gigantischen Porträtbestände in unseren historischen Archiven. Der neue Museumsverbund von Weimar, Wolfenbüttel und Marbach hat dazu eigene Stellen ausgeschrieben und auf der website einen blog eingerichtet: http://www.mww-forschung.de/
Januar Februar 2012
Oft wurde in dieser Rundschau auf Facebook verwiesen - es muss sein, weil viele Leute garnicht realisieren, dass Facebook auf deutsch eben "Gesichtsbuch" heißt, sodass alles, was im Namen von Facebook verhandelt wird, in gewisser und oft auch ganz direkter Weise mit dem Gesicht zu tun hat. Die neueste Nachricht aus der FacebookWelt ist mal wieder erschreckend. In der sonntaz vom 25.26.Februar stand in einem Artikel von Nicola Schwarzmaier, dass man inzwischen bei eBay "Freunde ersteigern" kann. Ein Mann namens Müller erhält mit dieser Geschäftsidee täglich 20 bis 40 Aufträge. Er verkauft über seine Firma Facebook-Freundschaften und -Likes. Sie werden getauscht und mit Creditpoints bezahlt. Ein hübsches Mädchen hat angeblich 132tausend Dollar mit der Versteigerung ihres Eintrags verdient. Was sagt uns das?
Gleichzeitig erfahren wir von einer umfangreichen Retrospektive der Malerin Cindy Sherman in New York, die immer wieder nur ihr eigenes Porträt darbietet, wenn auch in unglaublich vielen Posen und Verkleidungen.
Und die FAZ bringt uns den neuesten Stand der Gesichtserkennungstechnologie. Angeblich kann man in der Oxfordstreet in London einen Blick in einen Werbekasten mit einer Kamera werfen, die das Geschlecht des Betrachters erkennt und einen jeweils andern Film interaktiv darbietet. Frauen werden um Spenden für ein Kinderhilfswerk gebeten, Männer werden zur Internetseite des Unternehmens geführt.
Dezember 2011
Auch im Dezember wird am Gesicht wieder an allen möglichen Fronten gearbeitet, künstlerisch, technisch, medizinisch, ökonomisch, usw. Um nur etwas aus Kunstszene zu berichten: Da ist das neue Buch des Fotografen Abé Frajndlich, der hundert Porträts von Kollegen aus den letzten 30 Jahren arrangiert hat, erschienen bei Schirmer/Mosel in München. Da ist die neue Ausstellung des israelischen Bildhauers Gil Shachar (*1965) im Stadtmuseum Siegburg, "Das geheime Leben der Skulpturen" heißt sie und zeigt Wachsabgüsse von lebenden Personen, die anschließend koloriert werden und zum Teil völlig naturalistisch aussehen. Es sind Gegenstücke zu Gunter von Hagens Körperwelten, kommen sozusagen von der andern Seite des Tunnels, nämlich der Mimesis anstelle der Plastination. Die Augen dieser Figuren bleiben geschlossen, so wahrt das Kunstwerk seine Distanz als künstliche Schöpfung; und dennoch, mit der Erinnerung an den Golem aus jüdischer Tradition, vermitteln sie auch eine Ahnung von einem möglichen, erschreckenden, ungeheuren Umschlag ins Leben.
Wiederum eine andere Obsession wird aus New York berichtet (FAZ 20.12.2011): hier versucht der Künstler Jason Polan seit 2008 sämtliche New Yorker zu zeichnen! Angeblich hat er schon 16tausend skizziert, alle namenlos, aber mit Datum, und also eine Art Gegenstück zu der halben Milliarde von Individualporträts, die sich inzwischen bei Facebook versammelt haben.
Am anrührendsten aber ist die Nachricht aus Japan. Hier hat eine Familie von Puppenmachern begonnen, den Hinterbliebenen von Tsunamiopfern kleine Figuren zu fertigen, die das Gesicht der Toten tragen. „Ähnlichkeitspuppen“, ein Liebesdienst aus dem Ort Iwatsuki, für alle umsonst zu haben.
November 2011
Eine sehr interessante Studie hat die SZ am 15. November bekannt gemacht, von Alexander Kogan und Kollegen von der Universität Toronto. Man hat offenbar ein Physiognomik-Gen gefunden: Menschen, die darüber verfügen, zeigen mehr Empathie als andere, können die körpersprachlichen Signale besser und schneller entziffern. Das stellt die ganze Diskussion natürlich auf andere Füße!
Gleichzeitig wuchern Forschungen mit abstrusen Fragestellungen, wie etwa nach dem Gesichtsindex eines CEOs - Chief Executive Officer - : Das Knochenbauverhältnis von Breite zu Höhe verrät angeblich leadership Kompetenz. Studien dieser Art, die ausschließlich auf Bilder rekurrieren, rechnen damit, dass " head hunters" gleichfalls eher auf Bilder reagieren als auf lebende Personen. Realistisch daran ist freilich, dass in den globalen Unternehmen von heute auch die Angestellten ihre Chefs eher auf einem Bildschirm erleben als life, also auch ihrerseits eher auf die medial vermittelte Physiognomie reagieren können. Was alle Facebook User darin bestätigt, ihre Fotos möglichst vorteilhaft zu gestalten!
Oktober 2011
Der neue Film von Steven Spielberg zeigt den weltbeliebten Comic des Belgiers Hergé, Das Geheimnis der Einhorn in einer oszillierenden Theatralik, mit perfekter "digitaler Maske": "Zum ersten Mal hat man nicht mehr das Gefühl, es mit einem schlechten Kompromiss aus Real- und Trickfilm zu tun zu haben sondern mit einer eigenständigen Filmästhetik. Das liegt allerdings weniger an der fortgeschrittenen Technik als an der Personenregie von Steven Spielberg", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR. Andere Kritiker sind nicht so begeistert, wie zum Beispiel Fritz Göttler von der SZ vom 26.10., der meint, der Film lande "in einem toten Niemandsland... mit monströsen Figuren, die bei aller Rasanz, zu der die Dramaturgie sie verdonnert, ihre plastilinöse Plumpheit nicht kaschieren können." Auch Andreas Platthaus in der FAZ moniert vieles und vor allem das Fehlen einiger hoch beliebter Szenen. Der ungeheure Aufwand, mithilfe der sog. Motion-Capturing-Technik gezeichnete Figuren zu vermenschlichen, demonstriert die Zielführung der Kinowelt: den Schauspieler letztlich zu ersetzen, wie schon bei "Avatar". Die 3D-Technik, die mehr und mehr die Kinos erobert und zum Umbau ihrer Technik zwingt, ist dabei nur ein Baustein. In wessen Gesicht schauen wir dann in Zukunft?
September/Oktober 2011
Am 7. Oktober zeigte arte eine Art physiognomischer Reportage unter dem Titel "Durchschaut: Das Rätsel der Gesichter": einen Film von rund 55 Minuten, hergestellt von Luise Wagner und Andrea Cross. Es gab eine Einleitung über Paul Ekman, den wir hier schon öfter erwähnt haben, dann ein Interview mit einem ehemaligen Geheimdienstler, offenbar ein begabter Mienenleser, ferner ein Kapitel über einen Autisten und die neuesten therapeutischen Maßnahmen, Interviews mit Ethnologen, sowie mit einem Neurologen in Berlin, der versucht, Lügen gleich im Gehirn zu entdecken. Noch funktioniert das nicht, und die ernüchternde Botschaft des Ganzen ist ohnehin: mimische Kundgaben werden kulturell unterschiedlich entziffert, Autisten sind nicht wirklich heilbar, die Lügenentdeckungstechnik Paul Ekmanns wenig ergiebig, auch wenn dieser enorm viel Geld damit verdient.
Was man wissen sollte: Ekmans Facial Action Coding System (FACS) ist maßgeschneidert für InternetUser, die fremde Gesichter auf einem Screen ausgiebig zoomen können! Daher also auch für die Überwachungstechniker, Kunsthistoriker, DVD Verbraucher geeignet.
August 2011
Wie schon angekündigt, hat die große Ausstellung "Gesichter der Renaissance" im Berliner Bode Museum inzwischen ihre Pforten geöffnet: 170 Exponate sind zu besichtigen, darunter Gemälde von Antonello da Messina, Gentile Bellini, Antonio de Pollaiuolo, Sandro Botticelli, Leonardo da Vinci und Donatello. Hinzukommen Büsten und Medaillen, um möglichst sämtliche Porträtversionen und -funktionen des 15. Jahrhunderts an den Höfen Florenz, Venedig und Norditalien anschaulich zu machen. Der Liebling scheint "Die Dame mit dem Hermelin" von Leonardo , aus dem Jahr 1490, zu werden: das Porträt der Geliebten des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza.
Ebenfalls Aufsehen erregt hat ein Buch von Günter Karl Bose (Hrsg.)," Photomaton. 500 Automatenbilder: Frauen, Männer, Kinder. 1928-1945." Institut für Buchkunst in Leipzig, sehr gelenkig rezensiert von Christian Geyer in der FAZ vom 18. August. Die Besprechung zeigt einmal mehr, wie viel nicht nur im Auge des Betrachters liegt, sondern vor allem in seiner Sprache, in seinem assoziativen Horizont, der von akademischer Seite in aller Regel verengt wird.
Den Gipfel des physiognomischen August brachte aber die Süddeutsche Zeitung mit einer Collage von zwölf MerkelGesichtern, alle mehr oder weniger entstellend, jedenfalls karikaturistisch ausgesucht und montiert. Ein Rückblick auf die Blüte der physiognomischen Denunziation im 19. Jahrhundert, als Daumier die Parlamentarier insgesamt als groteske Masken vorführte und Louis-Philippe als "Poire", als Birne unsterblich machte.
Juni/Juli 2011
Denkwürdig fand unlängst die FAZ die Tatsache, dass Facebook inzwischen einen Gesichtserkennungsdienst auf den eigenen Seiten freigeschaltet hat. Von nun an kann man jedem Mitglied, das auf einem Foto übermittelt erscheint, einen Namen zuordnen. Angeblich eine praktische Erfindung, auch wenn die Zuordnungen nicht immer stimmen. Mit Recht schreibt aber die Zeitung am 13. Juli auf der ersten Seite: "Rasterfahnder werden das auch so sehen" - und ermahnt die User, dass man den Dienst auch nachträglich deaktivieren kann. "Vielleicht wäre jetzt der richtige Augenblick."
Parallel dazu erfahren wir aus dem New Scientist von einer neuen Erfindung: einer Brille, welche die aktuelle Stimmung des Gesprächspartners erkennen helfen soll. Rosalind Picard vom MIT hat in diese Brille eine Kamera eingebaut, die im Gesicht des Gegenübers 24 verschiedene Punkte abtastet, die Wiederholungen der Mienen registriert und das Schema mit sechs gespeicherten Gesichtsausdrücken aus der Forschung vergleicht. Es sind dies die Mienen von Denken, Zustimmung, Konzentration, Interesse, Verwirrung und Ablehnung - als könne man dies wirklich eindeutig fixieren. Das Ergebnis wird über Lautsprecher am Brillengestell mitgeteilt. Das Ganze soll natürlich eigentlich der Kontrolle der Werbung dienen: kommt sie an oder nicht?
Mai 2011
Das Jahr 2011 will wenigstens hierzulande offenbar zum Jahr des Gesichts werden. Nicht nur die steigende Zahl der Operationen - siehe den Eintrag vom April -, die neuen Mitgliederrekorde bei Facebook, (inzwischen 20 Mill.), auch die markanten Publikationen lassen darauf schließen. So erschien vor kurzem bei Rowohlt das Hauptwerk des amerikanischen Gesichtsfachmanns Paul Ekman unter dem Titel Ich weiss, dass du lügst. Die Erstausgabe von 1991 hieß Telling Lies, aber dann gab es den 11. September 2001, Ekman wurde vom neu gegründeten Home-Ministry angeheuert und erweiterte seine Kompetenz um die physiognomischen Erfahrungen im Umgang mit arabischen Terroristen. Weitere Zusätze gab es 2009, nachdem die höchst erfolgreiche und von ihm beratene Fernsehserie Lie to me erstmals ausgestrahlt wurde. Ekman, der für CIA und die US Armee gearbeitet hat, gilt heute als unbestrittener Chefanalytiker physiognomischer Datensätze.
Ebenfalls ein Hauptwerk zur Anthropologie und Psychoanalyse des Gesichts erschien soeben auf deutsch von Pierre Legendre, dem französischen Juristen und LacanSpezialisten: Gott im Spiegel. Untersuchungen zur Institution der Bilder, Turia & Kant, Wien ; ein Grundwerk zum Problem des Narzissmus. Angekündigt ist ferner ein Werk des Kunsthistorikers Hans Belting über "Gesicht und Maske". Was schließen wir aus diesem "facial turn"? Warten wir ersteinmal noch ab.
April 2011
Zu Ostern berichtete die New York Times über Gesichtsoperationen in China, einem boomenden Geschäft. Die Internationale Gesellschaft für plastische Chirurgie schätzte die Zahl der Ops im Jahr 2009 auf mehr als zwei Millionen; damit stand China nach den USA und Brasilien an dritter Stelle. Und die Zahl verdoppelt sich jährlich. In den letzten Jahren wurden Ausgaben in diesem Sektor zum viertgrößten Posten der Privatausgaben. Wie überall rangieren dabei Gesichtslifting und Faltenentfernung an erster Stelle, aber inzwischen steigt die Zahl der Patienten unter dreissig signifikant. Vor allem Lidoperationen und Augenvergößerung nach westlichem Vorbild sind gefragt; dann aber auch markantere Nasen, im Gegensatz zur westlichen Tradition des sogenannten "Nosejobs". Schließlich soll noch das Kinn schmaler und länger werden. Trotz bedenklicher Mängel im medizinischen Standard kommen 30 bis 40 % der operierten Patienten zurück, um weitere Eingriffe machen zu lassen. Begründet wird alles mit besseren Erfolgsaussichten im Geschäftsleben. Und bedenkt man die Rolle der Porträts in der netzbasierten Ökonomie, kann man kaum widersprechen. Das westliche, aber auch orientalische Gesicht setzt sich durch - aber wer weiss wie lange noch. Vgl. Sharon LaFraniere, For many Chinese, New Wealth and a Fresh Face, NYT April 23, 2011
Zu all diesen Entwicklungen lese man unter anderm Bernhard Poerksen und Wolfgang Krischke (Hrsg.): Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien. Halem, Köln 2010.
März 2011
Es hat kein besonderes Aufsehen mehr erregt, was an der Front der kosmetischen Chirurgie im vergangenen Monat stattfand: die erste Volltransplantation eines Gesichts in den USA. Ein 25jähriger Texaner namens Dallas Wiens, der bei einem Unfall völlig entstellt worden war, erhielt im Brigham and Women's Hospital in Boston in einer 15stündigen Operation ein komplettes Gesicht, das er inzwischen auch ein wenig bewegen kann. Es ist, nach den Operationen in Spanien und Frankreich der dritte Versuch. Wie die Immunreaktion ausfallen wird, muß sich allerdings erst noch zeigen.
Auch an anderer Stelle gibt es chirurgische Gesichtseingriffe. In einer großangelegten Forschungsreihe, von der Volkswagenstiftung finanziert, präsentiert sich die Abteilung für KinderNeurochirurgie der Berliner Charité zusammen mit dem Berliner Zentrum für Literatur - und Kulturforschung. In den kommenden drei Jahren soll die Geschichte der medizinischen wie kulturellen Schädelwahrnehmung und Schädelmanipulation reflektiert werden. Darüber wird wird weiter berichtet!
Februar 2011
Eine Ausstellung im Münchner Haus der Kunst und ein opulenter Fotoband haben Ende letzten Jahres den fazialen Diskurs denkwürdig zugespitzt. Die Ausstellung, die Anfang Februar endete, zeigte Gesichtsbilder der holländischen Malerin Marlene Dumas, kombiniert mit Werken alter Meister wie Rembrandt, Hals, van Dyk und anderen. Zusammengeführt wurden sie unter dem Titel "Tronien": einer Bildgattung vor allem aus dem 17. Jahrhundert, in der das Gesicht in einer Mittellage zwischen Musterbild, Ausdrucksstudie und Maske erscheint, also ohne Bezug auf ein lebendes Modell. So entwirft auch die Malerin Dumas Hunderte von Gesichtern meist von Frauen, und die Modelle sind unwichtig, meist steht die Miene allein im Raum und redet zum Betrachter. Hohle Vielfalt? Kann wirklich Jesus als Vera Ikon hier auftauchen - weil es einen historischen Jesus nicht gab?
Keine Idee von Maske, keine Idee von Muster oder Ausdrucksstudie gibt es in dem Fotobildband Menschenaffen wie wir.Porträts einer Verwandtschaft von Jutta Hof und Volker Sommer. Eine Großaufnahme nach der andern präsentiert Individuen aus den vier großen Gruppen Orang Utan, Gorilla, Schimpanse und Bonobo. Jedes Gesicht gehört einem Individuum, jedes hat auch typische Züge, jedes einen emotionalen Appell. Könnten wir ohne eine solche Idee von authentischen Gesichtern überhaupt leben?
Januar 2011
Das neue Jahr beginnt mit den Verlagsvorschauen, die immer früher kommen und immer längere Jahresstrecken ankündigen. Das Hauptereignis zum ersten Januar war natürlich die Unterstützung von Facebook durch Goldman Sachs und russischer Hilfe: 500 Millionen Dollar sind zugezahlt worden, auf fast 50 Milliarden Dollar hat sich der Wert des "Gesichtsbuches" erhöht, man wartet gespannt auf den Börsengang.
Im Kunstverlag Schirmer Mosel gibt es das begleitende Bildprogramm: Gleich drei berühmte Fotografen werden mit Porträtalben vorgestellt: über 500 Man-Ray- Portraits aus dem Centre Pompidou; der griechisch-britische Fotograf Platon mit einer Sammlung von 130 Gesichtern unter dem TItel "Power-Ein Portrait der Macht" sowie ein "Pantheon des deutschen Films" in hundert Farbtafeln von Jim Rakete. Sicher werden es nicht die letzten GesichterSammlungen in diesem Jahr bleiben, denn für den kommenden August ist im Berliner Bode Museum einen strahlende Ausstellung mit 150 Portraits der Renaissance angekündigt! Wird man, nach dem Börsengang von Facebook, nicht bald vom Facial Turn sprechen?
November/Dezember 2010
In der ersten Dezemberwoche findet in Dresden ein Kongress zur Datensicherheit im Internet statt - eines der Hauptthemen wird, laut Thomas de Maziere, dem Innenminister, die Frage der Gesichtserkennung sein. Neueste Software erlaubt ja, die Gesichter auf digitalen Porträts namentlich so zu kodieren, dass diese Gesichter im Internet sofort überall wieder erkannt und benannt werden können. Kann man das verhindern? Es ist doch, als sei ein Lasso ausgeworfen, dem niemand mehr entgehen kann, oder nur Menschen in der Dritten Welt ohne Internetanschluss.
Umso auffälliger sind die Anstrengungen der kosmetischen Chirurgie, die inzwischen eine "Epithetik" kennt. "Epithetiker" sind kosmetische Chirurgen, welche Unfallopfern das Gesicht rekonstruieren: nach dem Vorbild von "Prothetik". Anders als die "Prothetiker", die ja auch mit nicht analogen Gliedmassen arbeiten können - also etwa einem Holzbein - müssen die Epithetiker das Gesicht so genau wie möglich rekonstruieren, bzw. verbessern. Die FAZ brachte am 1. Dezember einen Bericht über Jörn Brom, einen von 38 Epithetikern in Deutschland.
September/Oktober 2010
Die im August berichteten Rechtstreitigkeiten um das Wort "Face" haben im Oktober sozusagen ihren Höhepunkt erreicht: nämlich im Film um den Begründer von Facebook, Mark Zuckerberg. The Social Network startete am 1. Oktober und hat seither Millionen Zuschauer und Dollar eingebracht. Verblüffend für Facebook-Laien ist der Ursprung des Ganzen angeblich aus der Laune zweier Studenten, mit technischen Mitteln die Schönheit der Freundinnen zu evaluieren. Im Klartext: evolutionäre Ästhetik zu betreiben. Vor aller Welt möglichst schön, oder mindestens interessant zu erscheinen, sich selbst im Akt des Kommunizierens als Marke zu etablieren, ist Facebook also von Anfang an eingeschrieben. Es ist damit auch ein Sieg der ökonomischen Vernunft, die auf Wettbewerb setzt. Dass es dabei auch durchaus unredlich zugeht, ist das Thema des ganzen Films, der als Gerichtsverhandlung angelegt ist, aber mit einem Vergleich endet.
August 2010
Am 27. August berichtete der Web 2.0 Blog TechCrunch, dass die Firma Facebook im Moment versucht, den Wortbestandteil "Face" als eigenen Markennamen schützen zu lassen. "Facebook" als Kompositum ist natürlich längst geschützt. Die Marke "Face" erhielten die Betreiber angeblich ursprünglich von einer britischen Firma namens CIS Internet Ltd, die ihrerseits eine Site namens "Faceparty" betrieb.
Wie auch immer: laut TechCrunch hat Einspruch gegen dieses Marketing Aaron Greenspan erhoben, der sich als eigentlichen Erfinder von Facebook betrachtet, damit aber juristisch unterlag. Inzwischen hat er eine eigene Firma namens Think Computer, die ihrerseits ein App für handys unter dem Namen "Face Cash" vertreibt. Face Cash! Andererseits gibt es auch bei Apple eine VideoMarke namens "Facetime"... MEHR
Juli 2010
Das Wort Gesicht scheint umgangssprachlich immer mehr synonym mit dem Wort Person zu werden - Facebook machts möglich. "Gesicht zeigen" heißt seit einigen Jahren eine Kampagne gegen Fremdenhass - hier versteht man unter Gesicht allerdings den Anteil an Zivilcourage im öffentlichen Auftritt, das Hinsehen statt Wegsehen.
In der FAS vom 25. Juli wird von den Erfolgen berichtet, die Paul Ekman (*1934), der dienstälteste Mimikforscher der scientific community, noch immer zu verzeichnen hat. Sein in den sechziger Jahren entwickeltes sogenanntes Face Action Coding System tritt mit dem Anspruch auf, interkulturell gültige, also angebornene mimische Kundgaben gefunden zu haben, basale Gesichtsausdrücke von Wut, Freude, Überraschung, Trauer u.a. In den Jahren nach seiner Emiritierung hat sich Ekman als teurer Lügendetektor sowohl der Wirtschaft wie der Politik anempfohlen, zuletzt dem US-Homeministry mit dem Versprechen, Terroristen bei den Grenzkontrollen entlarven zu können. Die Ergebnisse sind aber unbefriedigend, und die Kollegen bezweifeln das nicht öffentlich gemachte Verfahren. Körpersprachlich nervös werden kann man im Gespräch mit Grenzkontrolleuren aus vielerlei Gründen. ... MEHR
Juni 2010
An dieser Stelle soll in Zukunft einmal im Monat der zeitgenössische Gesichterkult und die dazugehörige Gesichtslesekunst, also Physiognomik von heute, kommentiert werden. Anlass ist ein Artikel einer großen deutschen Wochenzeitung vom 10. Juni über den Kandidaten zum Amt des Bundespräsidenten, Christian Wulff. Der Text ist betitelt mit "Eine Stilkritik". Illustriert wird er nicht mit einem Porträtfoto sondern mit diversen Kleidungsstücken, die Wulff angeblich trägt. Jedes Teil ist mit einem Preis versehen; alle zusammen ergeben den Preis der Oberfläche, um die es dem Autor ausschließlich geht. Selten hat das alte Lob der Oberfläche eine so fatale Anwendung gefunden. Nichts davon soll hier zitiert werden. Denn es handelt sich um eine Textsorte aus der Weimarer Republik: um physiognomische Verhetzung. ... MEHR