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16.Februar 2024 - Kein Ende des Streits
Nein, muss ich dieses Tagebuch heute fortsetzen, nach einem Monat. Es war ein Monat grausamsten Krieges zwischen Israel und Hamas, aber auch unablässiger diplomatischer Anstrengungen aus aller Welt. Heute begann wieder einmal eine Sicherheitskonferenz in München, was kann sie erbringen? Brutale Angriffe der Hamas auf Israel, Mord, Vergewaltigung, Geiselnahmen brachten das israelische Militär an die Grenzen der Leistungsfähigkeit und Akzeptanz weltweit. Was für ein Gegner! Eine jahrzehntelang hochgezüchteteTerrorgruppe, die sich mit menschlichen Schutzschilden absichert, Tunnel unter Krankenhäuser und Schulen gräbt, und wiederum weltweite Unterstützung findet. Wer müsste nicht zittern vor einem Gegner, der 2011 einen Bin Laden zu einer lang ausgebrüteten teuflischen Rache motivierte. Aber wer müsste eben auch nicht zittern vor der israelischen Vergeltung. Wissen wir, wieviel messianische Hoffnung auf dieses Armageddon gesetzt wird, wissen wir, welche Rolle die ultraorthodoxen Regierungsmitglieder neben
Benjamin Netanjahu spielen - spielen dürfen? Der Messias kommt, wenn die Not am größten ist. Dieses Scenario hat die Hamas den Juden bereitet: wohlgemerkt nur den gläubigen, die keinen Wehrdienst leisten.
15. November 2023 - Das Ende des Streiks
Endlich hat man sich in Hollywood geeinigt, auf ArbeitsKonditionen für AutorInnen und SchauspielerInnen, bei gegebener und unhintergehbarer Mitwirkung der Künstlichen Intelligenz. Die ist gekommen, um zu bleiben, müsste man mit drohendem Unterton sagen. Auch wenn die Panik etwas verflogen scheint, man hat wohl die Vorteile erkannt, die überragende Intelligenz und Belesenheit allemal erbringen - aber hat sich die Weltlage deshalb wirklich verbessert? Wird KI genutzt, um Frieden zwischen den Völkern herzustellen oder dient sie im Gegenteil dazu, immer raffiniertere Anschläge auszuführen? Israel, das seit dem 7. Oktober einen bitteren Krieg gegen die Palästinenser führt, könnte diese Intelligenz brauchen, um die HAMAS unter den Krankenhäusern zu outen und zu vernichten, ohne die Patienten, die Neugeborenen, das Personal und womöglich die Geiseln über der Erde zu schädigen. Ist das denkbar?
20. Juli 2023 - Der Streik in Hollywoodss
Seit Tagen brodelt es in der Kinowelt. Seit 60 Jahren gab es das nicht: Gewerkschaften haben zum Streik aufgerufen, erst die der Drehbuchschreibenden, dann der Schauspielenden. Alle beide konnten Lohnforderungen nicht durchsetzen, die der miserabel bezahlten Majorität dienlich wären: denn was die Stars verdienen, betrifft eine ganz andere Liga. Was sie aber alle eint, die minder-, die mehr- und die alles Verdienenden, ist momentan die Furcht vor dem Automaten ChatbotGPT, den man inzwischen mit einer Atombombe oder Pandemie vergleicht. ( Wie arglos war noch mein Eintrag vom 15. März!) Das digitale Abgreifen der physischen Performance von Schauspielenden, um jederzeit deren Auftritt im Produkt "korrigieren" zu können oder sie gar überhaupt ganz aussen vor zu lassen, ist eine wahrhaft teuflische Vorstellung. Wer hat dieses Drehbuch einer neuen, brutalen Sklaverei ersonnen: den Verkauf eines lebenden Leibes an die ZweitVerwerter, die dieses Lebendige nicht mehr brauchen? Wie soll man der Gier Herr werden? Wir denken an einen Kaufmann von Shakespeare, so prekär diese Assoziation auch sein mag. Beim Dichter wird das böse Ende abgewendet, werden gute Winde für die Fracht beschworen, der lebensdienliche Importeur bleibt verschont. Aber das Gedankenexperiment aus Venedig ist in der kulturellen Welt. Kolonialismus am lebenden Individuum: vielleicht war das schon immer der Algorithmus der Überlieferung?
13. Juni 2023 - Facebook's Ende - oder Neuanfang?
Seit dem letzten Eintrag hat sich weiter entwickelt, was ich die "mediale Verbuschung" nennen würde. "Verbuschung" nannte man früher den Sittenverfall von Diplomaten oder Händlern, die länger in kolonialer Gegend arbeiteten. Und das, obgleich oder gerade weil sie höhere Gehälter, vulgo "Buschzulagen" erhielten. Wort und Sache gab es übrigens auch nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung.
Zur Verbuschung gehört das grenzenlose Lügen der politischen Akteure, besonders der Kriegsparteien. Lügen, Leugnen, Abstreiten, Verwirrung stiften war wohl schon immer eine Waffe, mythologisch vor allem als Hadeskappe bekannt und bei Harry Potter zum Markenzeichen erhoben. Wer hat die North Stream 2 Pipeline zerstört, wer hat den Karowka-Staudamm gesprengt, und inzwischen auch weitere Wasserwerke? Das apokalyptische Szenenbild einer überfluteten Kriegsebene, die alles verbirgt, alles verschweigt, alles unter einem neuen Meeresspiegel geradezu glättet - während es in der übrigen Welt unaufhaltsam brennt -gewiss gab es das schon im SF Film irgendwo.
Mit zwingender Logik wurde inzwischen daher aus Face-Book, dem einstigen Gesichtsbuch, letztes Jahr "Metaverse". Die treibende Idee von Mark Zuckerberg war offenbar ein Tool für das Weltende. Wenn alles zugrunde ginge, aber noch lebende Wesen existierten, könnten sich diese mithilfe von simulierenden Brillen in die heile Welt zurückbeamen. Um die Jahrtausendwende gab es schon einmal eine "Second Life" Software. Man konnte als Avatar in solchen Bühnenbildern leben, reden, Geschäfte machen, vielleicht auch Sex erleben. Dasselbe wäre irgendwann auch auf dem Mond oder auf anderen Planeten denkbar und ganz bestimmt in einer Raumfähre. Zusammen mit den Kryptowährungen, die fast ausgereifte sind und natürlich ChatbotGPT, dessen nächste Version bald verfügbar wird, hat man dann eine perfekt simulierte westliche Gesellschaft im All. Im "Multiverse".
15. März 2023 - Die Stimmen der Weisheit
Seit meinem letzten Eintrag haben sich die Podcast Poduktionen vervielfacht - mit mehr oder minder sympathischen Stimmen, die mehr oder minder nachdenkliche Themen erörtern. Und zwar im Dialog, nur selten unterbrochen von O-Tönen aus anderen Aufnahmen. Da der Podcast meist über 30 Minuten dauert, da er als Fortsetzung konzipiert wurde, also eigentlich als Sendeformat, kann er nicht einfach journalistische Infos bieten. Folglich wurde der Podcast ein wunderbares Medium in Wissenschaft, Verlagswelt und überhaupt Kulturarbeit. Ein Zeitschriftenersatzformat, ein Ersatz für Blogs, in die sich viele Intellektuelle geflüchtet haben. Da die Jugend nicht mehr liest, soll sie hören. Und da sie unentwegt hört - nämlich Musik im Verkehr - kann sie sich nun auch PodcastWissen zu Gemüte führen. Auch wenn nichts davon schriftlich notierbar wird - wer kann sich mündliche Aussagen unterwegs merken ? - gab es minutenlangen Gedankentransfer. Anregung, Erleuchtung, Unterhaltung. Und ist das nichts?
Dass sich dies alles parallel zur Abschaffung des Gesichts als Ausweis von Individualität entwickelt, müssen wir immer wieder festhalten. Seit mindestens drei Jahren lauert die Technik der Gesichtserfindung in digitalen Petrischalen: längst sind diese fazialen Avatare nicht mehr von echten Gesichtern zu unterscheiden. Sie werden eingesetzt, um Verbrecher trügerisch vertrauensvoll erscheinen zu lassen, um mehr Diversität auf den websites der Unternehmen zu suggerieren, um sich selbst zu verschönen und verjüngen, etc. Kurz ist von hier aus der Weg zur Stimmsimulation, und kurz eben auch zum fingierten Podcast: wenn nämlich der neue Roboter ChatGPT eingesetzt würde. Nicht mehr lang kann es dauern.
22. Oktober 2022 - Statt Gesicht nun Stimme
Im kommenden Monat, am 10. November um 19 Uhr 15, wird an der Berliner Humboldt Universität eine Ringvorlesung unter dem Titel " Nach der Stimme" eröffnet, von Thomas Macho, dem Direktor des Wiener Instituts für Kulturwissenschaft. Die Stimme ist in Gefahr, und es wird wohl ein Abgesang: "Ihre einzigartige Prosodie, ihre spontane, ephemere und brüchige Performanz erzeugen eine Nähe und Intimität, mit denen selbst das Gesicht nicht mithalten kann."
Wir fürchten mit. Denn die Transformation der Biomasse Mensch geht eben weiter, unaufhaltsam, während das Original sich zunehmend kriegerisch zerstört, seis durch Krieg, Seuchen, Hunger oder Misswirtschaft. So jedenfalls wirkt es heute: Putin beschiesst immer wahlloser alles Ukrainische, inzwischen auch mit iranischen Drohnen. Denn Iran ist der Freund Putins, hat mit ihm Syrien unterjocht und mit dem Bau von Atombomben begonnen, um Israel auszulöschen. Die Verhandlungen mit der Atombehörde aus Wien stecken fest.
Aber es entsteht soeben eine Revolution im uralten Persien. Begonnen als Protest gegen den Tod einer jungen Frau, die das Kopftuch angeblich falsch trug und dafür im Gefängnis starb. Mit rasender Geschwindigkeit breiten sich Aufstände aus, und man sieht: Kein Palast, keine Kongresshalle, kein Parlamentssitz vertritt noch bürgerliche Interessen, weltweit ist es die Strasse. Doch sind es vor- oder nachbürgerliche Interessen, mehr nicht, denn weltweit liefern sich Menschen auf diesen Strassen der technischen Gesichtskontrolle aus, mit anschliessender Festnahme und Vernichtung.
Die Entmenschung des Gesichts zum Objekt der Registrierung und , im Gegenzug, der vorsorglichen Fälschung, sei sie kosmetisch oder chirurgisch oder beides, hat in den letzten Jahren die Stimme als organisch naturbelassenen Ersatz zu ungeahnter Beliebtheit gebracht. Die ersten podcasts wurden mit tosendem Beifall quittiert, inzwischen zerstören sie den Rundfunk, da podcasts zeitversetzt und isoliert hörbar werden. Zudem erlauben sie jedem Privatmenschen eigene Produktionen, ähnlich wie in der Musik-oder Videoszene, die ihre inzwischen gern getürkten Zuckungen vorführen. Aber die authentische Stimme, der immer schon gehegte Gesichtsersatz: womöglich verstummt sie demnächst ebenfalls?
17. Juli 2022 - Soldatenporträts
Paul Ingendaay beschrieb vor einigen Tagen in der FAZ das Wirken eines ukrainischen Malers namensWolodymyr Kaufmann, der seit dem 24. Februar fast nur noch Gesichter gefallener Soldaten zeichnet oder kritzelt. Es seien keine realistischen Porträts, aber eine Art Kunstarmee, mit stereotyper Mimik unter dem Helm. Viele tausend Stück, schreibt Ingendaay, habe er gesehen, eine Entsprechung zu den realen Fotografien, mit denen Lemberg in der Garnisonskirche der Toten gedenkt. "Kein Gefallener darf vergessen werden" ist die Devise des Malers. Sein Heer spiegelt vielleicht schauerlich und hilflos die riesige und kunstvolle Armee, die einst Kaiser Quin für sein Grab bestellt und erhalten hat.
28. Juni 2022 - Fortsetzung
Was versteht Olga Tokarczuk unter "Ognosia"? Es ist kein Verschreiber, sie meint nicht "Agnosie", sondern eine französische Prägung, die es auch im Polnischen gibt. "Ognosie" soll bedeuten: einen narrativ orientierten, ultrasynthetischen Prozess der Reflektion von Objekten, Situationen und Phänomenen, die gemeinsam vernetzt in eine höhere Bedeutungsebene gebracht werden sollen. Umgangssprachlich: die Fähigkeit, Probleme kunstvoll durch Erzählung und Detailbeobachtung anzuordnen. Ognosia, schreibt Tokarczuk, arbeitet mit außerlogischen Ereignisketten, bevorzugt Brücken, Refrains, Synchronizitäten. Es gibt eine Nähe zum sogenannten Mandelbrot Fraktal, aber auch zur Chaos Theorie. Nachteil des Verfahrens: es kann die Welt nicht mehr integral erkennen, geschweige denn beschreiben. Lasst uns eine Bibliothek neuer Wörter gründen, sagt sie. Für das Kommende haben wir sie nicht. We will need new maps as well as the courage and humor of travelers who won’t hesitate to stick their heads outside the sphere of the world-up-to-this-point, beyond the horizon of existing dictionaries and encyclopedias. I’m curious what we will see there.
Aber merkwürdig. Ausgerechnet das Menschengesicht scheint doch der letzte Halt im technischen Fluss der Dinge, den die Nobelpreisträgerin nicht bedenkt. Laut neuestem SPIEGEL nutzt etwa die Firma Apple seit Jahren "heimlich aufgenommene Fotos seiner Beschäftigten, um die Gesichtserkennung auf iPhones zu trainieren". Man erschuf damit das Feature zwecks Entsperrung des Apple Telefons. Die bisher unbekannten Maßnahmen dazu wurden jetzt von einer Whistleblowerin mitgeteilt. Wenn schon nicht wir als sprechende und wahrnehmende Wesen, so soll eben doch wenigstens unser smart phone uns integral erkennen, als Sesam funktionieren.
27. Juni 2022 - Das Menschengesicht verwandelt
Wie mit einem Ruck zeugen zwei Nachrichten vom Ende des angeblich verlässlich menschlichen Gesichts. Die eine handelt vom Videogespräch der Regierenden Bürgermeisterin Giffey mit einem Mann namens Vitalo Klitschko, bekannt als Bürgermeister von Kiew. Erst nach einer Weile fielen ihr Ungereimtheiten auf, er sprach Russisch, obgleich er das Deutsche beherrscht, und er fragte nach Ukrainern, die sich angeblich in deutsche Sozialsysteme einschlichen. Es handelte sich um ein Deep Fake. Die FAZ schreibt: " Bei diesem Videogespräch war ein eher winterlich gekleideter Klitschko zu sehen.Offenbar verwendeten die Betrüger Bilder oder Videoabschnitte, die aus dem April stammen könnten, und animierten das Material mithilfe eines ComputerProgramms neu. " Giffey sagte dem RBB, selbst Profis könnten nicht unterscheiden, ob sie mit der echten Person sprechen oder mit einem Fake. " Ich habe in hoher Auflösung das Gesicht von Vitali Klitschko gesehen, auch Gestik und Mimik waren da.<"
Die zweite Nachricht stammt aus einem langen Artikel der polnischen Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Erschienen in der amerikanischen Zeitschrift "Words Without Borders", handelt er von der biomentalen Weltlage, die sie mit einem neuen Begriff beschreiben will: "Ognosia". Demnach übernimmt das Prinzip Komplexität auf allen Ebenen des Lebens die Führung. "Es verändert sich durch die Klimakrise, die Epidemie, die Entdeckung der Grenzen wirtschaftlicher Entwicklung, aber auch durch unsere neuen Reflexionen im Spiegel: das Bild des weissen Mannes , des Eroberers im Anzug oder mit Safarihelm verblasst und verschwindet, an seiner Stelle sehen wir Gesichter, ähnlich wie sie Giuseppe Arcimboldo malte - organisch, hochkomplex, unverständlich und hybrid. Gesichter, die eine Synthese aus biologischen Zusammenhängen, Anleihen und Referenzen sind. Heute sind wir weniger ein Biont als vielmehr ein Holobiont, das heisst, eine Gruppe verschiedener Organismen, die in Symbiose zusammenleben." Betroffen davon sei vor allem das Modell der Heterosexualität. Das menschliche Geschlecht, schreibt Tokarczek, gleiche inzwischen eher einem "Kontinuum mit einer Bandbreite an Merkmalen [...] als dem alten polaren Antagonismus mit den zwei Geschlechtern. Jeder kann hier seinen einzigartigen und eigenen Platz finden. Was für eine Erleichterung!"
9. Juni 2022 - Mohammeds Gesicht
Unter allen Tabus, die auf dem Schlachtfeld des Gesichts schon gebrochen wurden, ist das Darstellungsverbot Mohammeds noch immer irgendwie gültig und gefährlich. Trotz aller Karikaturen, trotz der Fatwa über blasphemische Dichter. Soeben gab es muslimische Proteste gegen den Film "The Lady of Heaven", und einige Kinos nahmen ihn tatsächlich aus dem Programm. Es handelt sich um ein historisches Drama von 2021, verfasst vom "spirituellen Führer der Mahdi Servants Union", belehrt uns wikipedia. Es ist offenbar der erste Film über die historische Figur der Fatima während und nach der Zeit des historischen Mohammed. Um den sogenannten "An-Ikonismus" des Islam zu respektieren, wurden Lichteffekte zur Darstellung genutzt, als Gegensatz zu Schauspieler-Verkörperungen. Trotzdem lehnten die orthoxen Muslime, Shiiten und Sunniten das Ganze ab. Iran, Pakistan und Ägypten verboten die Ausstrahlung. Auch säkulare Kritiker waren unzufrieden. Wie auch immer: die vielverehrte Tochter des Mohammed ins Gedächtnis zu holen, ist ein Verdienst. Am Widerstand lässt sich ermessen, was der Feminismus in der muslimischen Welt noch zu leisten hat.
12. März 2022 - Das wahre Gesicht des Krieges
Gespenstisch in jeder Hinsicht waren die letzten beiden Monate mit dem Überfall der Russen auf ihr Brudervolk, die Ukrainer. Angeblich wollte Putin dieses Kernland der russischen Föderation heim ins Reich holen, wie Hitler gesagt hätte. Um dieses Plagiat zu verschleiern, behauptet Putin, er müsse in Kiew Nazis vertreiben - einen jüdischstämmigen Präsidenten entmachten oder besser wohl: töten. Wie teuflisch.
Nun gibt es also eine ungeheure Übermacht mit mehr als 150tausend Soldaten und einer modernisierten Flotte einerseits, und ein kleines Land mit 40 Mio Einwohnern, aber wild entschlossenem Widerstand andererseits. Während alle Welt aus pandemischen Gründen Masken trägt, hat Putin die Maske der Zivilität fallen lassen: das hässliche Gesicht des Krieges, mit brutalen Morden der Zivilbevölkerung, tritt nackt heraus. Und fordert die westliche Welt zur Reaktion. Noch trägt diese westliche Welt die Maske des Händlers - mit ihren schneidenden Sanktionen. Niemand will einen dritten Weltkrieg in Europa. Aber der Diktator droht mit Atombomben - ist es wirklich nur Bluff, wie Selenskij meint?
16. Januar 2022 - Gesichtswahrungsmaßnahmen
Die dramatische Szene um die Ukraine, Putins Aufmarsch von hunderttausend Soldaten an ihrer Grenze und die harte Forderung nach Sicherheitsabsichtserklärungen des Westens: eine gespenstische geopolitische Fantasie steht im Raum. Putin will sein "Gesicht wahren" - als Erbe der alten Sowjetunion und Verwalter von großräumlichen Jalta-Vereinbarungen. Was mit der Krimbesetzung begann, soll mit der Ukraine nun fortgesetzt werden. Noch bildet die Sprache das eigentliche Schlachtfeld: Diplomatie wie auch Technik simulieren Dialoge, dabei steht alles bereit zum Duell. Oder fast alles. Deutsche Fachleute und Publizisten beklagen den schlechten militärischen Zustand unserer Bundeswehr. Sie ermahnen die Bundesregierung brieflich zu härterem Vorgehen : aber was stellt man sich vor, wer sucht den Krieg?
8. Dezember 2021 - Der Quellcode als Gesicht
Man muss sie schon fieberhaft nennen, die Streitigkeiten um das menschliche Gesicht, angefangen von den Kunstgriffen der Medien über die der pharmazeutischen, kosmetischen Industrie bis hin zu religionsdogmatischen Maßnahmen (Burka). Man kann das aber auch anders deuten: Längst sind wir vielleicht Subjekte und Zeugen einer biologischen Wende, eines Evolutionsgeschehens. Mit Recht hat die Zürcher Linguistin Angelika Linke vor kurzem bemerkt, dass zum fanatischen Streit um das Gendern, auch der um das geschlechtlich unsichere Empfinden einer erstaunlichen Zahl von Menschen gehören; man kann dazu setzen, auch die Demonstrationen für oder gegen die Abtreibung, für oder gegen künstliche Befruchtungen mit Leihmüttern und -vätern. Offenbar ändert sich der Modus unserer Fortpflanzung. Eine "deep biology" navigiert uns - eine vielleicht vom Klimawandel erzwungene Umgestaltung des Menschenkörpers oder ihre Vorwegnahme?
Schon die Coronamaske hat längst ein Weltgesicht erzeugt, dem wir möglicherweise auf Jahre hinaus nicht mehr entrinnen können. Was bereitet sich vor, hinter dieser Maske, die unsere Mimik stark einschränkt und feinste Nuancen auf die Augenpartie verschiebt? Eine garnicht mehr unterirdische Begleiterscheinung ist doch der shift von der visuellen zur akustischen Kommunikation. Die Weltgesellschaft kommuniziert mehr und mehr über Töne und Laute, Podcasts und clubhouses, allemal über youtube. die gesprochene, gesungene oder gerappte Sprache überwältigt die Schrift mit unabsehlichen Konsequenzen. Denn gerade über die Stimmlichkeit haben wir ja längst auch den Robotern Eintritt in unsere Sozialwelt gestattet: angefangen vom Navy im Auto bis zu Siri oder Alexa auf dem Sofatisch. Zum Genossen Roboter in Coronazeiten passt aber der Genosse Mensch mit einem QR Code. Beim Eintritt wo auch immer zeigen wir heute unser Digitalgesicht - und der Verkäufer betrachtet und entziffert es mit dem Auge des smartphones. Die menschliche "wetware" hat anorganische, ergo unsterbliche Stellvertreter erhalten. Ein Roboter betrachtet den andern. Mehr dazu demnächst.
6. November 2021 - Sprechende Pferde, "Viehsiognomik"
Heute sprach Clemens Setz, der diesjährige Büchnerpreisträger, denkwürdig über Büchners "Woyzeck" von 1836, genauer: über das Pferd des Marktschreiers in der Szene "Bude. Lichter. Volk.". Den Auftritt sollte man original lesen. Der Marktschreier gibt Unterricht in animalischer "Viehsiognomik". Er unterrichtet sein Pferd im Rechnen, ergo im Denken. Er zeigt den Zuschauern: Das Tier ist "ein verwandelter Mensch". Aus dieser Szene entwickelt Setz seine Rede. Umstandslos kommt er auf den Nachfahren des Marktschreiers, auf den bekannten Tierpsychologen der Jahrhundertwende, Karl Krall. Krall kaufte den berühmten "klugen Hans", das rechnende Pferd, dazu noch zwei arabische Vollblüter und widmete sich dem Dialog mit der Kreatur. Die Tiere lernten nicht nur rechnen, sondern sprechen, nach Art eines Morse-Alphabets. Setz artikulierte die Wörter hingebungsvoll, vor allem auch die "Äusserungen" der beiden Araber.
Krall wurde europaweit bekannt. Er schrieb ein Kapitel der Populärwissenschaft, die Intellektuellen suchten ihn auf. Doch 1916 musste er die Pferde an das Heer abliefern. Was aus ihnen wurde, ist nicht bekannt. Doch in den 1960er Jahren begann in den USA das große Experiment mit Menschenaffen, vor allem dem Schimpansenmädchen "Washoe". Die Verhaltensforschung reagierte begeistert, als es gelang, mittels Gebärdensprache einen Dialog mit dem Tier herzustellen. Gegner des Experiments meldeten sich natürlich auch - zuletzt sogar der bekannte Autor TC Boyle, der nur Tierquälerei in der Fragestellung entdecken will. Clemens Setz dagegen sieht die Liebe zur Kreatur.
30. Oktober 2021 - Facebook adé - Meta ante portas
Seit dem letzten Eintrag am 6. Oktober verging viel Zeit - und die Aktivität der Whistleblowerin Frances Haugen hat gewirkt. Sie hat Facebook zu Fall gebracht. Unglaublich. Erleben wir gerade das Ende einer Epoche? Mark Zuckerberg kündigt jedenfalls eine dramatische Zäsur für Facebook an. Aus dem "Gesichtsbuch" wird ein "Jenseits"buch. Statt "Facebook" heisst das Unternehmen jetzt "Meta". Oder "Meta-Versum" - statt "Uni-Versum".
Die Öffentlichkeit hat das Unheimliche daran noch nicht ganz erfasst. Unheimlich ist der Größenwahn bei alldem. Unheimlich ist aber auch die neue Geschäftsidee dahinter. User sollen demnächst mit virtueller Realität versorgt werden, mit Brillen, die ihre Träger in andere Welten versetzen. Man soll Inhalte nicht mehr betrachten oder lesen, sondern in Inhalte einsteigen. Was soll damit gemeint sein? Für deutsche User bietet "Meta-Verse" rein sprachlich etwas altbekanntes, nämlich das, was auf deutsch "Zweites Gesicht" heisst, also Visionen evoziert. Hellseherei, "zweite Gesichter", wurden in Europa Ende des 19. Jahrhunderts zur Modeerscheinung. Im Umfeld der Psychoanalyse, der Hypnose, der Theosophie, gab es Geistererscheinungen, Jenseitswelten, die schliesslich zu Kunst und Weltanschauung gerinnen konnten. Hilma af Klint, die schwedische Malerin, schuf hunderte von Gemälden nach ihren Visionen; Rudolf Steiner, ihr Prediger, stiftete dazu die "Anthroposophie": Weisheitslehre des Menschseins. Dieser Lehre folgt die Partei der Grünen seit langem; mit ihr bekämpft sie das "Anthropozän": = die Epoche höllischer Unweisheit im Handeln der Menschheit. Ab morgen tagt im schottischen Glasgow die große Klimakonferenz, deren Ergebnis über das Fortleben unserer Spezies entscheiden soll. Hat Zuckerberg seine Bekanntmachung passend dazu datiert?
6. Oktober 2021 - Facebook Super Gau
Seit gestern taumelt die größte Internetfirma, das "Gesichtsbuch" unserer Epoche, auf einen Abgrund zu. Eine Mitarbeiterin namens Frances Haugen hat nach zweijähriger Anstellung gekündigt, tausende von Unterlagen mitgenommen und der Öffentlichkeit übergeben. David gegen Goliath: ist kein Vergleich. Dieser David ist weiblich , Harvardabsolventin und entschlossene Aktivistin für eine bessere Welt. Vor dem Kongress sagte sie gestern: "Die Dokumente, die ich weitergegeben habe, beweisen, dass Facebook uns wiederholt darüber getäuscht hat, was seine interne Forschung über die Sicherheit von Kindern, seine Rolle bei der Verbreitung von Hetze und polarisierenden Botschaften und so viele andere Dinge enthüllt." FAZ von heute.
Die Zeitung bringt auch ein interessantes Interview mit ihrem Anwalt John Tye. Dieser Anwalt hat seit 2016 die Verteidigung von whistleblowern zum Geschäft gemacht. Er hofft auf Belohnungen, die er mit den Aktivisten teilen könnte, hat aber nach eigener Aussage bisher nicht wirklich damit reussiert.
Die erste Wirkung der Anhörung gestern war stundenlanger Ausfall nicht nur von Facebook sondern auch Whatsapp und Instagramm. Angeblich war es ein technischer Fehler, dessen Korrektur stundenlan dauerte. Man könnte auch denken: in Silicon Valley wurden fieberhaft belastende Unterlagen gelöscht . Tausende von Kunden haben inzwischen Facebook verlassen.
22. September 2021 - Erschiessung wegen Maske
Seit vorgestern entsetzt sich die deutsche Dialogwelt über einen Vorgang in Idar-Oberstein, Rheinland-Pfalz, von Malu-Dreyer regiert. Als hätte es in ihrem Land mit der apokalyptischen Überschwemmung im Frühjahr nicht genug Unheil gegeben, erschoß jetzt ein 49jähriger Mann einen 20jährigen Tankstellen-Kassierer (Student), weil dieser ihn zum Tragen einer Maske anhielt. Es war keine Affekttat - vielmehr fuhr der Mann nach einem ersten Streit nachhause, holte eine Pistole, kehrte zurück und verwickelte den Kassierer erneut in einen Wortwechsel über das Maskentragen - um dann zu schiessen. Der Dialog mündete ins tödliche Duell. Noch weiss man zu wenig über den Täter in U-Haft. Angeblich wollte er "ein Zeichen gegen die Corona Politik" setzen. Ein Zeichen? Nein, Rache eines Querdenkers. Querdenker sind verkappt suizidale Lemminge. Jetzt aber doch in Aufruhr, denn man wird ihnen keinen Verdienstausfall mehr bezahlen - sie könnten sich ja impfen lassen.
6. September 2021 - Deep Fake
Vom Neandertal zum Silicon Tal: die SZ berichtet heute von der albtraumartigen Fazial-Technik namens "Deep Fake". Die HochleistungsHardware einer Firma namens NVidia vermag Menschen derart täuschend echt nachzubilden, dass selbst nahe Menschen die Fälschung nicht bemerken. Die Folgen sind abgründig. Man könnte Personen in Kontexten auftreten lassen, die sie nie erlebt oder erstrebt haben. Man könnte ihren Leumund ruinieren, ihre Arbeit vernichten. Selbst Stimmen lassen sich inzwischen täuschend echt nachahmen - das Todesurteil etwa für Synchronsprecher. Den höllischen Gipfel bildet momentan offenbar eine Firma namens "Hour One", die Menschen dazu animiert, ihre Gesichter mit Copyright zu verkaufen. Man muss dafür nur einer Aufnahme zustimmen. "Wenn man die resultierenden Daten in eine KI-Software einspeist, kann die Firma daraus eine schier endlose Menge an Videomaterial erzeugen, in dem die entsprechende Person in jeder beliebigen Sprache sagt, was sie will." Eine Goldgrube der Werbeindustrie - und ein Lohnverhältnis des Verkäufers mit sich selbst. Brutaler lässt sich das Ende des Selfie-Taumels nicht inszenieren.
4. September 2021 - Mrs. Ples, Alter 2,1 Mio Jahre
Das vorzüglich renovierte Bonner Landesmuseum beherbergt nicht nur den ersten Neandertaler, gefunden 1856 in der Nähe von Düsseldorf. Seit 1877 steht er im Raum, inzwischen rekonstruiert mit ziemlich menschlichen Zügen, nicht zu wulstigen Augenbrauen, nicht zu dicken Lippen oder vorstehendem Kinn. Der Fund entfesselte seinerzeit bekanntlich einen Sturm der Entrüstung. Das sollte eine Spielart des homo sapiens sein, sogar sein Vorfahre? Der damals berühmteste deutsche Mediziner, Rudolf Virchow, bestritt es fanatisch. Er hatte damals gerade zusammen mit Heinrich Schliemann Skelette in Troja ausgegraben, also aus dem 2. Jahrtausend v.Ch., - und überlegt, ob diese alten Griechen nicht eigentlich Germanen wären. Die Rassenkunde war längst zur Elitenkunde geworden. Ein Affe konnte unmöglich im Stammbaum stehen.
Das Landesmuseum beherbergt aber noch ganz andere Vorfahren, wie etwa Mrs. Ples - ein Spitzname für den "Plesianthropos", ein vielleicht weiblicher Schädel mit dem geschätzten Alter von ca. 2 Mio Jahren. Vergleicht man sie mit andern vormenschlichen Köpfen in dieser Sammlung, so fallen die starken Kinnpartien auf. Sie verraten die Pflanzenfresser, die starke Muskeln brauchten, um Gras und Blätter stundenlang zu kauen. Wer das Weltgesicht unter der Maske von heute betrachtet, könnte die Wiederkehr dieser Kinnpartie im Profil erkennen. Die Menschheit im Rückbau?
27. August 2021 - Und wieder Burka und Turban
Seit einer Woche tobt ein politischer Sturm um den Abzug der US Truppen aus Afghanistan. Präsident Biden musste und wollte den Prozess abschliessen, den sein Vorgänger Trump im Februar 2020 eröffnet hat. Eine Abmachung mit den Taliban, ohne Beteiligung der afghanischen Regierung. Eine Entmachtung zudem, die den Taliban freie Hand im Umgang mit den tausenden von Kollaborateuren der NATO gab. Welche Generäle waren damals beteiligt, welche sind noch unter Biden im Amt, welche sind Republikaner? Ihnen allen - wie der ganzen GOP - kann das Schlingern des demokratischen Präsidenten nur recht sein. So auch den Freunden der verhüllten Köpfe und Gesichter. Burka wird wieder Frauen- , Turban wieder Männerpflicht in Afghanistan. Zu schweigen von der Rückkehr der Frauen ins Mittelalter, vom Ikonoklasmus und Musikverbot. Wer weiss, wieviele Attentäter in den letzten Tagen in Nato-Länder ausgeflogen wurden - in größter Hetze. Wurden die 40tausend geretteten Personen gebührend untersucht? Ihre Auffanglager werden unter Joe Biden jedenfalls nicht Guantanamo heissen.
15. August 2021 - Das böse Weltgesicht
Es musste ja kommen, die Beobachtung der maskierten Weltgesichter durch die Neue Zürcher Zeitung. Nun also durfte hier der prominente Peter Weibel aus Karlsruhe eine Ausstellung kommentieren, "Antlitze" heisst sie, stammt vom deutschen Künstler Jürgen Klauke und zeigt montiert alle möglichen Gesichtsverhüllungen im Kachelmuster. Welch groteske Anlage, wenn man dahinter die Kachelmuster der gegenwärtigen Zoom-Konferenzen erkennt, mit der sich die Weltgesellschaft ja gerade eben vor Corona rettet. Grotesk daher auch die Schlagzeile der Zeitung: "Das menschliche Gesicht ist in der Krise. Denn mit der Pandemie hat sich die gesichtslose Gesellschaft ausgebreitet, die uns zu virtuellen Verbrechern macht." Welche Macht bis zum tiefsten Unsinn haben Schlagzeilenredakteure in Zeitungen? Plötzlich merkt man, wie wohltuend die neue Podcast Kultur doch ist. Sauber artikulierende Stimmen - kein Gebrüll.
4. August 2021 - Helmut Plessner, Philosoph des Leibes
Schon oft konstatiert und fortwährend erlebt wird der zeitgenössische Trend zur Quantifizierung des Daseins. Alles und jedes wird heutzutage in Zahlen gespiegelt und damit eigentümlich vernichtet, mindestens entseelt. Rekorde ebenso wie Katastrophen liefern einen neutralen Mehrwert der Zählbarkeit, die wiederum eine trügerische Aufsicht auf unser Leben schafft, eine Hierarchie zwischen Maximum und Minimum. Das Gegenteil dieser Perspektive hat Oswald Spengler als "Physiognomik" bezeichnet, als Wahrnehmung von Gestalten in Raum und Zeit. Epochen, Länder, Ereignisse haben demnach "Gesichter" - irreduzibel in ihrer Einmaligkeit, so wie Namen irreduzibel zur Einzelperson gehören. Oder zu einer Handelsmarke. Oder zu einem Adelsgeschlecht. Oder zu einem Sternbild. Und so fort. Namen und Gesichter sind nicht quantifizierbar, bleiben hartnäckig Qualität.
Man könnte auch an den Hype der modernen "Singularitäten" erinnern, eine Begriffsfindung des Soziologen Reckwitz, aber Welten liegen zwischen Spenglers Weltgesicht und den Singularitäten mit Facebook. Beide Denker sind gleichweit von einem dritten entfernt: Philosophen Helmut Plessner, einer der eindringlichsten "Gesichtsphilosophen" des 20 Jahrhunderts. Und warum? Weil er das Gesicht nicht als Markenzeichen behandelte, sondern als Organ. 1941, also vor achtzig Jahren, erschien seine bahnbrechende Studie über "Lachen und Weinen" mit dem Untertitel "Eine Untersuchung der Grenzen des menschlichen Verhaltens".
7. Juli 2021 - Gesichtsvergesslichkeit
In der FAZ erfahren wir von den neuesten Forschungen zur grassierenden Vergesslichkeit im Alter, der sogenannten Gesichtsblindheit. Joachim Müller-Jung schreibt: "Jeder Fünfzigste erkennt andere Menschen überhaupt nur mit Mühe oder gar nicht. Prosopagnosie heisst das im Medizinjargon ..." Dabei gelingt Wiedererkennen doch mehrheitlich. In der älteren Forschung sprach man von "Großmutter-Neuronen", die jetzt auch im Hirn gefunden wurden, "tief unten im Schläfenlappen bei Experimenten mit Rhesusaffen..." Man entdeckte ein vielversprechendes Areal, "das auf vertraute Gesichter extrem schnell reagiert. ... Speist sich die Erinnerung an das Gesicht zudem noch aus einer leibhaftigen Begegnung, feuert dieser Nervenverbund sogar dreimal so stark wie nach Ansicht virtueller Gesichter auf dem Bildschirm." Genau das haben wir alle ja immer vermutet. In diesen Tagen wird auch über die enormen Defizite der Schulkinder berichtet, die nun ein Jahr oder länger digital unterrichtet wurden. Bis zu 40% Lernverluste werden beschrieben.
27. Juni 2021 - Androide sehen dich an
Mary Shelley steht mit Frankenstein am Anfang dieser Geschichte. Deutsche Filmfrauen heute zeigen die Sache subtiler, mit Darstellung von androiden Partnern: Maria Schrader in „Ich bin dein Mensch“ und Sandra Woller in „The Trouble with Being Born“. Der "Mensch" namens Tom ergänzt eine Archäologin, das Automatenkind namens Elli befriedigt Pädophile. Der eine mit strahlenden, das andere mit leblosen blauen Augen.
Gibt es auf diesem Level human akzeptable Ergänzung, gibt es Befriedigung? Optimierende Algorithmen haben längst Einzug in unsere Welt gehalten, real, wie in japanischen Spitälern und Hotels, aber auch literarisch, performativ und nun also auch filmisch. Nur wer die winzigen Etappen zu diesem Ziel vergisst, kann erschrecken. Nahezu unser ganzer Körper lässt sich doch inzwischen erneuern, Zahn um Zahn, Nase, Hüfte, Hand und Fuss, selbst Augen, und immer so fort. Unsterblichkeit rückt grenzwertig in den Blick, das Geschäft der Bildhauer wird zur Ich-Funktion. Hier hatte und hat Facebook eine tragende Selbstbild-Rolle. Aber auch das Gegenteil stimmt: wer heute gepeinigt von „Umvolkung“ spricht, meint nicht Flüchtlinge sondern Roboter, versteht es aber erst bei der Kündigung.
13. Juni 2021 - Bohrende Gesichtserkennung
Wagenbach hat eine neue Buchreihe begründet: "Digitale Bildkulturen", kleine Bändchen von rund 80 Seiten, über nahezu die ganze Kunstgeschichte - aber eben noch viel mehr. "Gesichtserkennung" von Roland Meyer etwa umfasst pragmatische Aspekte zwischen Selfies und Überwachungstechnologie. Meyer nennt, welche Komplikationen einer verlässlichen Erkennung individueller Gesichter im Weg stehen. Die Algorithmen brauchen möglichst viele Daten, also Aufnahmen im Netz, um ein Gesicht in allen denkbaren Situationen identifizieren zu können: weinend oder lachend, bei Licht und Schatten, kosmetisch bearbeitet oder anders frisiert oder gar nur halbseitig dargestellt. Erwiesen wurden zuletzt auch die rassistischen Voreinstellungen der Software: schwarze Gesichter werden signifikant schlechter erkannt , also öfter verwechselt, als weisse.
Meyer plädiert daher mit vielen andern für einen Stopp im Gebrauch des maßlos einschneidenden Werkzeugs. Face detection ist ja inzwischen das Herrschaftstool par excellence. Schon im 13. Jahrhundert gab es ausformulierte Anweisungen an die europäischen Fürsten, wie Untertanen physiognomisch - auch stimmlich - einzuschätzen wären. Damals ging es um typische Merkmale, wie auch heute noch bei Bewerbungsgesprächen. Aber heute sucht man vor allem nach individuellen Gesichtern im täglichen Leben, im Berufsverkehr, im Sport, vor allem bei massenhaften Demonstrationen. Die Massen werden mit Drohnen überflogen, gescannt und anschliessend durchsucht, wenn nicht schon Satelliten aus dem Weltall diesen Dienst tun. Dass unser Auge zum stärksten Organ der Welterkenntnis von und nach oben würde - wer hätte es je gedacht?
27. Mai 2021 - Das Gesicht der Schweiz
Schon öfter war hier die Rede von Schweizer Gesichtern. Kein Zufall, stammt doch der eindrücklichste Autor zu diesem "unterhaltsamen" Gebiet aus Zürich. Johann Kaspar Lavater, der Zeitgenosse und glühende Verehrer von Goethe, schrieb tausende von Sätzen über faziale Menschenkenntnis , als Pfarrer geradezu Gesichts-Seelsorger im doppelten Sinn. Eine helvetische Spezialität im 21n Jahrhundert war dann wieder der Streit um die Burka, nirgends heftiger als hier, wo die wenigsten Burkaträgerinnen leben.
Nach einer Doku gestern im 3sat Programm steht fest: dem Gesicht geht es in der Schweiz so gut wie nirgends. Denn pünktlich zum Abbruch der EU Verhandlungen am 26. Mai lief ein Werbefilm für die schweizerische kosmetische Medizin. Eine einschlägige Praxis mit freundlichen Ärzten war Schauplatz für zwei ältere Schweizerinnen. Die eine wollte ihr Doppelkinn, die andere ihr hängendes Lid verbessern. Alles lief nach Plan. Die Eingriffe wurden ziemlich echt, mit Schnitten und Blut gezeigt - dann aber auch die große Freude danach. Beide Frauen waren überglücklich, wie vom Arzt versprochen.
Zwecks Doku Format wurden ein paar Zahlen beiläufig eingeblendet: etwa 90tausend OPs jährlich werden in der Schweiz durchgeführt; meistens an Frauen, meistens am Brustumfang. 12500 SF kostet momentan allein ein unteres Facelift. Aber wieviel Geld wird mit Botox verdient? Doku-kompatibel durfte zwischendurch eine ältere, unverschönte Ethikprofessorin öfter nach dem Sinn dieser Altersvermeidung fragen. Eindrucksvoll eine jüngere, hübsche Frau, die eine Botox-Behandlung ablehnte, weil sie mimisch lebendig bleiben wollte. Was folgt daraus? Vergessen wir nicht, im Berufsleben arbeitet schon eine Gefühlserkennungsmaschine - siehe den letzten Eintrag.
3. Mai 2021 - Die Maske in der Kunst, die Kunst der Maske
Was für ein Glück für den Diskurs und diese Gesichtsrundschau! Die Gerda Henkel Stiftung hat heute die beste Kennerin der Maskenkunst zum Interview geladen. Eine Stunde spricht Christian Kruse, Professorin für Kunst- und Bildwissenschaft an der Muthesius Hochschule in Kiel, zur Geschichte von Maskierung und Entlarvung, von Ästhetik und Mode und von humaner Interaktion: im Bann der Kultur wie auch im Bann der Pandemie. Wer an diesen fesselnden Ausführungen interessiert ist, sollte L.I.S.A. aufrufen, das Wissenschaftsportal der Stiftung.
Was für eine Fülle an Assoziationen erweckt dieser kunsthistorische Parcours! Wir erinnern uns doch: bevor es wirklich ernst wurde mit dem Sterben, mit Bildern überfüllter Spitäler, Patienten im Beatmungsmodus, panischer Distanzierung, mochte man ja noch spielerisch mit dem Kleidungsstück umgehen. Die arabischen Modisten haben es ja vorgemacht, Niqab aus Tausendundeiner Nacht tauchte ins Bild. Dann die vielen selbstgemachten Stoffmasken aus alten Männerhemden oder Blusen. Die paarigen Masken für Ihn und Sie. Die Masken passend zum Kostüm oder Abendkleid. Ja, das gab es alles, aber eigentlich eher nur im Westen. Aus den asiatischen Ländern drang unaufhaltsam das heutige Weltgesicht, der medizinische Notfall durch. Heute regiert es uns fast alle, schwarz oder weiss.
Mit Recht wird im Interview gefragt, ob der Phänotyp des maskierten Menschen wohl auch von der Kunst als Motiv entdeckt werden wird. Ich bin sicher. Das Zwischenglied zwischen medizinischem Alltag und Kunst wäre ja das Theater und der Film und überhaupt die gesamte Comic Kultur. Lauter Bühnen der Maskierung und De-Maskierung. Ein großes Thema. Welche Gesichter die Regisseur:innen der Zukunft uns zeigen werden, wie diese Gesichter wiederum als Video ins bewegte Bild überführt werden, welche Masken die gaming Kultur bereithält im Übergang zum Roboter: einiges davon habe ich hier ja schon öfter erörtert. Und auch meine pessimistische Vision: die FFP2 Masken bilden formal eine Schnauze und keinen Mund mehr ab. Eine Evolution ist im Gange.
18. April 2021 - Emotionserkennungsoftware
Andrew Lewis Huang , geboren am 8. April 1984 in Kanada, ist ein kanadischer Musiker, Videoproduzent und eine sogenannte „YouTube- Persönlichkeit“. Von ihm stammen “Song Challenges“ Videos in Serie, zahllose Alben und Singles und musikalische wie visuelle Experimente. Im März 2020 brachte er es auf mehr als 2 Millionen Abonnenten. Hier kommen wir in die eigentlichen Weltdimensionen der social media. Eine seiner Arbeiten von 2007 heisst „Doll Face“: “A machine with a doll face mimics images on television screen in search of a satisfactory visage. Doll Face presents a visual account of desires misplaced and identities fractured by our technological extension into the future.”
youtube verzeichnet für dieses Thema über 12 Millionen Besucher. Interessiert hat sich letztes Jahr auch die Kulturabteilung der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung: unterwegs zur fazialen Analyse. Nichts liegt heute näher. Die Wahrnehmung unserer selbst schwankt ja gerade zwischen Maschine und Tier, man denke an Heinrich von Kleists Parabel vom Marionettentheater. Soeben berichtete die FAZ vom 14. April von einem Experiment, das wie eine Antwort auf „Doll Face“ wirkt. Versuchspersonen können an der Cambridge Universität Selfies anfertigen, deren Mimik von einer facedetectionsoftware analysiert wird. Die Idee stammt von Paul Ekman, dem Erfinder der fazialen Analyse. Das Selfie wird nun dem Schema der sechs Emotionen zugeordnet, die Ekman für universal hielt – ein fazialer Klassismus eigener Art. Ekmans System soll Emotionserkennung garantieren, nicht einfach nur Identität. So findet man Lügner heraus, oder Attentäter, oder Frauen in Not. Ekman wurde schon immer kritisiert, nun hat er eine neue radikale Kritikerin namens Lisa Feldman Barrett. Nach ihrer Meinung gibt es “schlicht keine hinreichenden wissenschaftliche Belege dafür, dass die Gefühlslage einer Person aus ihrem Gesicht abzulesen sei.“ Hoffentlich lässt sich die Emotionserkennungssoftware noch verhindern. In der Wirtschaft wird sie leider längst angewandt, um Bewerber zu klassifizieren.
31. März 2021 - Roboter umarmen, dalli dalli
Während sich unsere Gesprächskultur täglich mehr kannibalisiert, hat der faziale Diskurs wohl schon das Endstadium erreicht. Eine Publikation aus dem Berliner Haus der Kulturen heisst „Haut und Code“ und will menschliche Haut mit digitalen Screens gleichsetzen. Die Autor*innen erzeugen in ihren Auslassungen angeblich „ein interdisziplinäres Rauschen zwischen Oberflächenstrukturen und punktuellen Vertiefungen: Oberflächen, Häute und Interfaces werden verletzt, vermessen, verändert oder geheilt.“ Was für ein intellektueller Wahnsinn herrscht hier? Welche community spricht in dieser Weise miteinander und worüber? Soll eine tastbar technische Fläche als Haut betrachtet werden?
Leider passt dazu der eben erschienene Roman von Kazugo Ishiguro „Klara und die Sonne“, in dem ein Mädchen von ihrer Mutter einen Roboter gegen die Einsamkeit geschenkt bekommt. Und noch besser passt dazu ein Artikel von Melanie Mühl heute in der FAZ. Sie beschreibt die Fortschritte der Robotik: speziell der Sexpuppen aus Japan, wie in dem Film“ Hi, AI – Liebesgeschichten aus Japan“ :„Etwas Gruseliges, Unwirkliches umgibt Sexroboter wie Harmony, eine blonde, devot sprechende Puppe mit vollen Lippen und blauen Augen“. Diese Puppen sollen inzwischen mehr sein als erotische Spielzeuge, vielmehr „ein Gegenüber. Ein Versprechen, dass Liebe nicht weh tut.“
Humanoide Roboter werden längst weltweit sprachlich und bewegungstechnisch raffiniert. Manche können den Kopf bewegen, zwinkern, lächeln, englisch oder chinesisch sprechen. Die Besten sind enorm lernfähig. Je mehr man sich mit ihnen unterhält, je mehr Details sie von dem user erhält, desto näher kommen sie ihm im Gespräch, der user fühlt sich verstanden und vergisst das Künstliche. Auch die Haut fühlt sich echt an, es gibt Augenbrauen aus Echthaar, Sensoren für Gänsehaut und vieles andere.
Die Geschäftsidee selber wurde 1966 von Joseph Weizenbaum entwickelt, in Gestalt von „Eliza“, einem Computerprogramm mit eingebautem Wortschatz. Man simulierte damit eine psychotherapeutische Gesprächssituation. Es stellte sich heraus, dass die meisten Menschen nicht an die Künstlichkeit des Gegenübers glauben mochten, wenn auch nur ein paar Sätze menschenähnlich klangen und der Robot die richtigen Antworten gab. Sie fühlen sich verstanden. Weizenbaum war betroffen, dass sogar manche Psychotherapeuten selber eine Roboter-Therapie für möglich hielten. Zwei Jahre nach Weizenbaums Tod 2010 erschien ein Dokumentarfilm „Plug & Pray“ zu diesem Thema.
8. März 2021 - Weltfrauentag im Gesicht
Gestern stimmten die Eidgenossen wieder einmal über Burka und Niqab ab: diese für uns so befremdliche Frauen-Maske der islamischen Welt. Alle Argumente Für oder Wider sind längst und seit Jahren ausgetauscht. Die Feministinnen haben sich mit den Konservativen (der SVP) verbündet: zusammen sind sie stark. Sie wissen, dass Frauen unter Mohammed und seinen Jüngern unterdrückt und gefoltert werden. Sie wissen, dass man ihnen mit Weltmacht en gros helfen muss, wenn auch nicht en detail. Rund 30 Frauen tragen momentan in der Schweiz eine Burka auf der Strasse, also öffentlich. Da sie glaubensmäßig nicht ohne Burka nach draussen dürfen, müssen sie theoretisch nun immer im Haus bleiben. Auch reiche arabische Touristinnen werden die Schweiz nicht mehr aufsuchen. Man könnte folglich - wie im österreichischen Zell am See - verarmen.
Bescheidene Frage: Könnte man nicht auch mal in Deutschland abstimmen, wo momentan alle drei Tage eine Frau durch Mord oder Totschlag endet? Leben wir in der frauengerechteren Kultur?
28. Februar 2021 - Die FacebookBrille
Sollte noch jemand am Übergang von Facebook zu Face DetectionBook gezweifelt haben, gab es gestern die Nachricht im GUARDIAN dazu.
"Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sitzen in einer Bar und ein unheimlicher Fremder versucht ständig, Sie anzusprechen. Sie ignorieren ihn. Am nächsten Tag erhalten Sie eine SMS von diesem Fremden. Er kennt nicht nur Ihre Telefonnummer, er weiß auch, wo Sie wohnen, er weiß sogar alles über Sie. Die Person hatte nämlich eine Facebook-Brille auf, verstehen Sie? In dem Moment, in dem sie in Ihre Richtung geschaut haben, hat die Brille Sie über die Gesichtserkennungstechnologie identifiziert.
Dies scheint genau die Art von Black Mirror-esque Zukunfts-Facebook, auf die wir gewartet haben."
Nicht wahr, George Orwell feiert soeben seine Wiederkunft im deutschen Sprachraum mit acht neuen Übersetzungen: doch bis zu so einer Überwachung Face to Face ging seine technische Phantasie allerdings nicht. Für eingefleischte Dialogiker deutscher Sprache ist es aber ein Schock. "Von Angesicht zu Angesicht" heisst eine der frömmsten Formeln unserer Kirchengeschichte. Nur ein Peter Sloterdijk könnte jetzt lässig einwerfen: naja, Gott hatte eben immer schon eine Face DetectionBrille auf der Nase, hat immer schon in den Grund unserer Seele geschaut. War das nicht gerade ein Baustein des autoritären Charakters, von Adorno/Horkheimer erkannt? Wovon schwärmen die Querdenkerinnen mit offenem Gesicht Face to Face Viren ausströmend?
19. Februar 2021 – Faziale Hinrichtung
Vorgestern zeigte der Sender arte eine Doku aus der Schreckenskammer der deutschen Physiognomik. Es ging um den berüchtigten Fall Bruno Lüdke, jenen mindergeistigen Mann, den abgefeimte Kriminalisten der 1940er Jahre für achtzig Morde an Frauen verantwortlich machen wollten. Aus Mangel an Beweisen wurde er schliesslich getötet. Ein Skandal der Polizeigeschichte unter Hitler – aber nicht nur unter ihm. Nach 1945 gewann die Schauergeschichte an Fahrt, die Medien griffen sie auf, der SPIEGEL berichtete durch Robert Augstein, Robert Siodmak verfilmte sie 1957 unter dem Titel „Nachts wenn der Teufel“ kam. Niemand bezweifelte die Ermittlungen. Mario Adorf spielte damals den armen Teufel, als der sich Bruno Lüdke endlich erwies. Im Film sieht man ihn im Archiv Dokumente studieren: reumütig darüber, dass er offenbar einen unschuldigen Menschen als abartigen Verbrecher ins öffentliche Bewußtsein gebrannt hatte. Susanne Regener und Axel Doßmann *haben den Fall penibel rekonstruiert. Was die Kriminalbeamten eigentlich antrieb, war blanker Rassismus. Nur weil der Mann angeblich aussah, als ob er hätte töten können, wurde weiter ermittelt. Sein Körper, sein Kopf, die Hände wurden schliesslich vorbildliches Lehrmaterial. Das unentwegt rassistisch angeheizte physiognomische Räsonnieren der NS Bürokratie hatte jede Menschenvernunft zum Schweigen gebracht.
*Axel Doßmann/Susanne Regener, Fabrikation eines Verbrechers. Spector Books Leipzig 2018
6. Februar 2021 – Corona Lippenstift, gibt es!
Die letzte Ausgabe der Financial Times Weekend hatte eine Mode-Beilage: sehr schick: „Back to Basics. What we want to wear now?“ Eine dichte Seite 45 berichtete über neue Lippenstifte – “The Hottest Red Shades For All-day Wear”.
Werbung musste wohl sein bei 49% Umsatzrückgang - „no parties, no office and no hot dates , what was the point? The eye was hailed as the feature du jour, the focus retrained to the place that remained on view above a mask. … It felt tragic. And desperately unnecessary. “
Beatrice Hodgkin erinnert dann aber an den Lippenstift der Soldatinnen im 2. Weltkrieg als Farbe der Verteidigung. „Hitler hated it“, weiss sie. Und spricht dann von Alexandria Ocasio-Cortez, der demokratischen Favoritin von 2020. Sie trug im Wahlkampf Stila’s Stay All Day Liquid Lipstick! Das merken wir uns.
7. Februar 2021 - weiter mit der Burka
Noch einmal zum feministischen Burka-Artikel der NZZ von vorgestern. Frauen im Burkagewand, schrieb Autor El Ghazzali, werden von ihren Glaubensverwandten bestraft, unterjocht, entmenscht, symbolisch beerdigt. Wir setzen hinzu: Nicht grundsätzlich so vom säkularen und gebildeten Westen. Im österreichischen Zell am See etwa hat das Zusammenleben mit Musliminnen ganz gut funktioniert. Waren es genügend wohlhabende Touristinnen? Nein oder nicht nur. Gerade die Toleranz gebildeter Aktivisten ist El Ghazzali ein Ärgernis. Er spricht von der Ächtung der Frau durch „linken Kulturrelativismus“ und „Ethnopluralismus der Rechten“. Dahinter flackert also der Schrecken der Kolonialdebatte.
Denn das Thema selbst ist doch an sich ausdiskutiert.Dass der Mensch nur da wirklich Mensch sei, wo man ein blankes Gesicht erkennt, Mimik und Stimme – mit dieser idealistischen Verirrung dürfte man keinen verschütteten oder entstellten Menschen aus den Trümmern eines Krieges oder Erdbebens retten. Auch unsere hoch raffinierte kosmetische Chirurgie könnte man kritisieren: denn wessen Gesicht kommt aus dem OP? Und vor allem: was geschieht gerade mit unserem Corona Weltgesicht? Der Maskenzwang gilt ja momentan gerade in staatlichen, bürokratischen Kontexten: in den Schulen, den Ämtern, sogar auf den Strassen. Maskentragen hängt von der Situation ab - genau wie im Karneval. Zum politischen Werkzeug taugt das nackte Gesicht einfach nicht. Es ist das Zentralorgan der Sozialität.
Eine einzige Ausnahme ist die Gesichtserkennung. Man studiere die Technikgeschichte der face detection. Die gehobene Kriminalistik seit der Frühen Neuzeit braucht nackte Gesichter. Und man studiere die Rolle des Gesichts in den USA, vor allem unter dem Berater Paul Ekman (*1934), dem Spezialisten für faziale Lügenerkennung. Ekman wirkte angeblich beim Aufbau des home ministry nach 9/11 mit. Er gab vor, jeden Lügner bei der Einreise sofort aufgrund fazialer Züge erkennen zu können. Mohamed Atta, der Pilot der Todesmaschine von 2001, konnte 2001 unerkannt mit blankem Gesicht in die Kamera schauen. Nicht auszudenken, wenn Donald Trump seine Obsession mit fake news von Paul Ekman bezogen hätte. Dessen Blockbuster „Lie to me“ lief 2009-2011 und brachte ihm weltweiten Ruhm.
5. Februar 2021 - Und wieder eine Burkadiskussion
"In Gesellschaften, die der Frau die Verhüllung des Gesichts aufzwingen, herrscht eine Kultur vor, die darauf abzielt, die Frau aus der Gesellschaft auszugrenzen", beginnt ein Artikel für die Internationale Ausgabe der NZZ: also für die deutschsprachige Leserschaft weltweit. Nun also ein feministisches Referat, mit vielen Zitaten weiblicher Aktivistinnen, aber verfasst von einem männlichen Autor. Ist etwas daran aktuell? Natürlich steht der gräßliche Mord am Geschichtslehrer Samuel Paty vom letzten Oktober unauslöschlich vor Augen, als Teil der fortwährenden islamistischen Bedrohung, nicht nur in Frankreich. Präsident Macron versucht gerade neue Schranken zu errichten.
Aber hat das Burka-Tragen momentan etwas damit zu tun? 2011 erliess Frankreich als erstes Land ein Burkaverbot - viele andere Länder folgten. Nun, unter Corona Bedingungen, wird die Lage paradox. Denn das Gesetz verbietet jede Gesichtsmaske im öffentlichen Raum , verlangt aber seit 2020 medizinisch das Gegenteil. Ein Artikel dazu wäre dringlich erwünscht. Aber darum geht es der NZZ nicht. Worum dann?
Schweizer Konservative lieben das Religions- Thema wahrscheinlich trotz gewaltiger Präsenz-Lücken. Vor ein paar Jahren zählte man vielleicht 100 lebendig verhüllte unter den rund 6 Millionen Eidgenossen, aber vielleicht tausend erschreckende Bilder auf grellen Wahlplakaten und entsprechenden Zeitungsseiten. Als 2015 eine Million arabische Flüchtlinge nach Europa drängten, erschütterte der Hass gegen sie unsere politische Szene. Die Schweiz war besonders erbittert. Bis heute unterstützen manche Zeitungen die Merkelgegner. In diesem Jahr endet Merkels Herrschaft. Mit einer deutschen Ausgabe beteiligt die NZZ sich am Wahlkampf. Soviel zur Aktualität.
23. Januar 2021 – Trumps Gesicht
Nun also, nach dem Abgang des Präsidenten: wer wagt sich an ein Porträt? Wer zeichnet uns ein Meme dieses vier Jahre lang allgegenwärtigen Gesichts? Mir fällt sofort Adrian Daub ein. Gerade erschien von ihm ein süffisant intelligentes Buch über die Erfinder von Silicon Valley: „Was das Valley denken nennt“. Aber schon 2017 beschrieb er die viel ältere, vorwissenschaftliche Form des Denkens, über physische Wahrnehmung von Körpern, vor allem des Gesichts, auch Physiognomik genannt. Wir haben auf dieser website immer wieder gegrübelt.
„The Return of the Face“ hieß der Text in der Plattform namens longread. Auch ohne Trump besonders ausführlich zu erwähnen, fragte Daub schon damals eigentlich „Was das Volk >Trump sehen< nennt“. Er verwies auf eine Fotomontage des SPIEGEL, eine Überblendung der Gesichter von Trump und Putin. Beide Tyrannen werden eben jetzt, im Januar 2021, dramatisch bestürmt. Wir erleben eine Titanomonachie antiken Ausmaßes.
Tatsächlich hat die Pseudowissenschaft der Physiognomik die dazu passende, uralte Geschichte, mit zwei scheinbar disparaten Lieblingsthemen. Das eine heisst Porträtmalerei oder –Fotografie, also Verherrlichung des Individuums. Der andere heisst Rassismus, also Lob einer Ethnie, Hass auf andere. Keine Denkmanier hat in der deutschen Geistesgeschichte schlimmer gewütet als diese Physiognomik. Das Denken in Gesichtern – fromm, fremd, lasterhaft, stark, verrückt, böse etc. – hat das kollektive Denken, besonders das antisemitische, antiafrikanische, antimuslimische gefesselt, wenn nicht in Ketten gelegt. Und gleichzeitig die Abgötterei an den einen Erlöser und Führer entfacht: wir erinnern an Hitler.
„Physiognomik ist eine verworfene Pseudo—Wissenschaft des 19. Jahrhunderts“, schrieb Daub und setzte hinzu: „Warum können wir nicht damit aufhören?“ Ja warum? „ Physiognomik hatte immer etwas von Stammeswissen: was man im Gesicht eines andern sieht, hängt davon ab, wer man selber ist. Erfunden von weissen Männern, fand man Schönheit, Ernsthaftigkeit und ‚Humanität‘ in allen Gesichtern, die jenen der weissen Männer glichen.“ So verliebt dürften Trumps Wähler ihren Abgott erleben. Sich selbst, ihr Ich-Ideal in ihm, auch wenn es dem europäischen weissgott nicht entspricht.
Könnte man diese gefährliche Fixierung auflösen? Ja, sagte Daub 2017. „ Fänden wir eine einzige, universelle Manier der Gesichtswahrnehmung, dann könnten wir den Verdacht entkräften, dass wir in andern Gesichtern immer nur uns selber, unser Volk, unsere Familie finden.“ Und er verwies auf ein Cover des TIME Magazine von 1993. Man sah darauf „The New Face of America“ – und siehe da, es gehörte einer jungen Frau. Komponiert hatte es ein intelligenter Computer aus einem Mix verschiedener Ethnien.
War es ein technischer Coup aus Silicon Valley? Nein, eben nicht. Spätestens seit gestern kennt die Welt Kamala Harris, die neue Vizepräsidentin neben dem neuen Präsidenten. Joe Biden ist wahrhaft ein weißer Mann, zudem noch weise und aus Altersgründen weißhaarig. Aber Kamala Harris ist auch ohne Computer nahezu die Frau, die sich Daub erhoffte: nicht nur ein Gesicht, sondern ein Kind asiatisch-afroamerikanischer Eltern. Und mehr noch: auch Adrian Daub selber hat seit ein paar Tagen ein Töchterchen afroamerikanischer Herkunft. Wir gratulieren! Die Götter mögen beide beschützen.
14. Januar 2021 - Dialog auf Augenhöhe
Während ein welthistorischer Kampf um Lüge und Wahrheit tobt, nimmt die Pandemie ungeheuren Aufschwung . Ein mutiertes Virus aus England steigert die "zweite Welle" zum Tsunami. Gesundheitsversorgungen weltweit sehen sich "am Limit". Zu viele Kranke, zu viele Tote, zu wenige PflegerInnen und Ärzte, viele davon längst erschöpft. Unendlicher Streit füllt die Medien - und bedrückende Triagen stehen an.
Die Bevölkerung zerfällt angsterfüllt in Gläubige und Ungläubige. Die Ungläubigen, die maskenlosen,"Gesicht zeigenden" Lemminge , zweifeln zwar an den Medizinern - glauben aber viel mehr als die braven Patienten. Sie glauben an Verschwörungen aller Art, lassen sich aus den USA über mordlüsterne Demokraten belehren und warten auf den Ausnahmzustand, der ihnen politische "Freiheit" verschafft. Wie soll man sie regieren?
Die Gesundheitspolitiker fordern immer wieder einen "Dialog auf Augenhöhe" mit "den Menschen". Warum? Keine Stunde in unseren Medien, kein Abendprogramm vergeht doch ohne Nachrichten von der Coronafront, keine Busfahrt ohne dauernde Ermahnungen zum neckischen "AHA" . Was meint man mit diesem Dialog? Der Ausdruck selber beschreibt doch eigentlich nur den Reporter mit Mikro und Kamera. Menschen auf Augenhöhe befragen - das mag gut für die Zuschauer sein, aber auch für die Köpfe? Der Pferdefuss dieser Technik besteht im Modus des Dialogs. Fragen des Reporters werden vom Befragten beantwortet, aber die Antwort steht dann meist einfach im Raum - egal wie klug oder töricht. Der Reporter muss weiter.
Dabei hat die EU verschiedene kluge Beschlüsse gefasst. Impfstoffe wurden zugelassen, eingekauft und verteilt; arme Regionen werden bedacht, Senioren und PflegerInnen vorrangig behandelt. Das gigantische Hilfsprogramm für die notleidenden Südländer wurde angeworfen: mit einer grotesken Szene in Rom. Matteo Renzi , der Juniorpartner von Ministerpräsident Conte, hat gestern die Koalition aufgekündigt. Vor dem Bruch kam ein langer Brief mit dem Hauptvorwurf: die Regierung soll EU Gelder unter EU Aufsicht erhalten, will aber nicht. Das Beispiel Griechenlands ist bedrückend unvergessen.
5. Januar 2021 - nachmittags : Trumps rasender Gesichtsverlust
Auch und gerade dieser Verlust muss in einer Rundschau wie dieser besprochen werden. Die Grenzen zwischen dem physischen und dem symbolischen Gesicht sind ja erschreckend fließend. Nicht nur gesichtsentstellende Krankheiten oder Unfälle oder Attacken zeigen eine beschädigte persona im übertragenen Sinne. Jeder Verlust an Ansehen liesse sich als facial destruction bezeichnen. Die Geschichte der Karikatur beweist es, zuletzt gipfelnd im tödlichen Drama um die Mohammed Karikaturen. Auch Trump ist so oft und so martialisch karikiert worden, dass sein endgültiger Abtritt aus der Weltpolitik nicht mehr friedlich denkbar ist. Karikaturen wirken ja wie "Sprechakte": Sie stellen die Weiche vom bildpolitischen Dialog zum sprachlos mörderischen Duell, wie letztes Jahr in Paris. Trumps Telephonat vom 4. Januar 2021 mit dem republikanischen Wahlbeauftragten Raffensberger in Atlanta, war vielleicht der letzte audiovisuelle Dialog aus dem Weissen Haus, maskenlos in jeder Hinsicht.
22. Dezember 2020 - Brexit Facelook
Nun also gibt es in England einen mutierten Virus, mit angeblich 70% schnellerer Ansteckung. Als wollten die Götter den kommenden Brexit beschleunigen, ja ihn sogar mit physischem Sinn erfüllen: denn die längst geplanten Maßnahmen bei einem harten Austritt wirken nun geradezu als Vorsorge gegen kontinentale Ansteckung.
Wird es die Masken populärer machen? Werden die Coronaleugner endlich zur Raison kommen? Die letzten Demonstranten in Deutschland, tausende von Leuten, zeigten „Gesicht“, wutentbrannt, müssen nun aber auch den Preis dafür zahlen. Sachsen und Thüringen, Heimstätten der AfD, haben die höchsten Infektionsraten bundesweit. Aber es fällt doch auf, dass von der AfD Spitze offenbar niemand krank wird. Hat man sich dort vorsorglich mit Putins „Sputnik“ impfen lassen?
22. November – "Gesicht der Krise"
Vor vier Tagen beschrieb die FAZ das "Gesicht der Krise". Sie fand es nicht etwa im maskierten Phänotyp der Weltgesundheit, sondern im "Zoomgesicht" des technisch versierten Intellektuellen oder Prominenten oder jugendlichen smartphoners. Alle ins Gespräch vertieft - so aymmetrisch wie auch immer. Auf den Zoomplattformen unter der coronakrise bilden sich eigene Gesichtsbühnen aus: teils in bürgerlichen Wohnungen, vor Büchern und Kindern, teils in kahlen Büros, teils draussen bei Wind und Wetter. Die Gesichter, beschreibt die FAZ , sind oft "ungünstig ausgeleuchtet, seltsam verzerrt, mit Flecken, Augenringen und zu seltsamen Grimassen neigend." Eigentlich angenehm realistisch! Auch die Stimmen klingen verzerrt, aber, wie wir seit Adorno wissen, die Produktionsbedingungen des Klangs müssen bewußt werden, um nicht Opfer sinnloser Ästhetik zu werden.
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Heute nun lesen wir in der NYT, wie sich unsere technische Elite von diesem Mangel befreien wird. Eine Gruppe hübscher, glänzender, natürlich farbenfreudiger Gesichter illustriert einen Artikel dazu: "The people in this story may look familiar, like ones you’ve seen on Facebook or Twitter or Tinder. But they don’t exist. They were born from the mind of a computer, and the technology behind them is improving at a startling pace."
November 2020 – Kein Lächeln unter einer Maske!
"If you want a picture of the future, imagine a boot stamping on a human face – forever.” - dieses Zitat stammt aus einer der abgründigsten Gesichtsanalysen des vergangenen Jahrhunderts, aus Orwells Roman „1984“. Erschienen 1948, zog er die Summe der ideologischen Weltkriege – denn beide standen auf unheimliche Weise im Bann der sogenannten „Physiognomik“. Eine ihrer Urszenen heisst „Rassismus“, eine andere „Entwürdigung“, eine dritte „Anbetung“, eine vierte „Diagnostik“, letztere vor allem seit Hippokrates.
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Lesen im Gesicht und am Körper, was im Innern einer Kreatur vor sich geht, woran sie leidet, was sie plant, was sie erlebt hat und ob sie lügt– all diese Fragestellungen drangen ins Alltagsleben ein, sogar als Praktik der Tierzucht, als Schule der Menschenkenntnis, dann auch der Kunst, bis hin zum fazialen Fanatismus der Bildkunst seit Christi Geburt; zuletzt aber auch massiv in die facial detection devices von heute. Physiognomiker blieben die Medizinmänner des aufgeklärten Abendlandes – und George Orwell spielte souverän auf dieser Klaviatur. Das Gesicht ist in seinem Roman eine umkämpfte Hostie des Menschseins. Einerseits anbetungswürdig bis zur Raserei, andererseits unsäglich zerstörbar, so wie im Zitat beschrieben. „Gesichtsverlust“ nennt man heute soziale Konstellationen, die früher mit dem Wort „Ehre“ bedacht wurden, oder seit 1945 vor allem mit „Würde“. mehr zitate zu Orwells physiognomik siehe hier: https://www.sparknotes.com/lit/1984/quotes/character/obrien/
Oktober 2020 - Neue Emojis?
Neuigkeiten auf dem Gesichtsfeld. Erstens: Apple kündigt ein remake der Emojis an! Offenbar findet man die jetzt vorhandenen Gesichtsausdrücke unter Maskendiktat unzureichend - kein Lächeln unter einer Maske! - ausserdem hat die Konkurrenz Samsung schon schneller reagiert. Lassen wir uns überraschen.
Zweitens zeigt der US Wahlkampf eine tragische Zwickmühle für weibliche Aktricen. Wie gewohnt, werden mediale Auftritte mit Gebärdendolmetscherinnen inszeniert - doch was passiert, wenn die Politikerinnen hoch emotionale Sätze äussern, aber zuvor mit Botox ihre Mimik stillgestellt haben? Dann erscheint diese Mimik nur nich bei der Dolmetscherin?
Juli - August 2020 - Geschichte der Maske
Anfang Juli 2020 unterhielten sich zwei Mitglieder der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung über das Wort „Gesichtsmaske“: der Jurist Michael Stolleis und die Autorin und Dichterin Ursula Krechel. Die Anregung zu diesem und einigen weiteren „CoronaDialogen“ stammte aus dem Deutschen Wörterbuch, wo seit Juni ein eigenes Kapitel zum Wortschatz der Corona Epoche eröffnet wurde. Im Newsletter des Instituts für Deutsche Sprache IDS hieß es dazu: „Technische Innovationen, historische Ereignisse, sich wandelnde gesellschaftliche Gegebenheiten oder politische Neuerungen – für eine funktionierende Verständigung muss sich der Wortschatz ständig anpassen. Da kann es schnell passieren, dass man ein Wort hört oder liest, das man noch nicht kennt oder bei dem man sich unsicher ist, wie man es schreibt oder spricht."
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Nun also das wahrhaft neu verwendete und für diese meine Rundschau bedeutsame Wort „Gesichtsmaske“ – semantisch etwas redundant, da das Wort „Maske“ ja immer schon ausschließlich Gesichtsverhüllung – oder kosmetische Handlung - bedeutet hat. Folglich sprechen die beiden Akademie-Mitglieder viel über die Kulturgeschichte der Maske im Theater, bei festlichen Hofbällen, karnevelistischen Umzügen, und natürlich in der ärztlichen Geschichte der Pest seit dem 13. Jahrhundert. Nur dort, in den berüchtigten und furchterregenden Schnabelmasken der Pestdoktoren, hat die Maske eindeutige Funktionen: statt eine bekannte Person zu verfremden, wird hier die Person, der zuständige Arzt, übereindeutig gemacht – in seiner amtlichen Funktion. Das Gebilde schützte den Arzt vor Ansteckung und Gestank und ermöglichte zugleich das Zeigen der Geschwüre.
Die heute weltweit verlangte und benutzte „Schutzmaske“, wie man besser sagen sollte, trifft nun aber eben jetzt auf eine völlig neue Szene, geradezu einen Kulturkampf. Nicht nur entstand durch die Flüchtlingsbewegung um 2015 eine aggressiv neue Sicht auf die Schleierkultur der muslimischen Welt. Durften oder dürfen Musliminnen wirklich Niqab oder gar Burka tragen, dürfen sie in der christlichen Welt mit Kopftuch öffentliche Berufe ausüben? Der Streit ist nicht entschieden, immer wieder gibt es Prozesse. Auch gibt es seit 1985 ein Vermummungsverbot für Massenversammlungen und einzelne Situationen, wie etwa eine Vermummung vor Gericht.
Nun also, seit Anfang des Jahres 2020, gilt das Gegenteil: Vermummung von zwei Dritteln des Gesichts durch einen „Mund- und Nasenschutz“ wird staatlich gefordert und zwar weltweit und ganz besonders bei Massenversammlungen. Plötzlich sehen die Menschen weltweit einander seltsam ähnlich, ein „Weltmenschengesicht“ ist unversehens entstanden, während gleichzeitig eine Rassismusdiskussion wütet. Zufall? Plötzlich verstummen auch alle möglichen Raisonnements, die uns ein Leben mit verhülltem Gesicht aus antiislamischen Motiven als mörderische Feindestat erklärt haben. Niemand wollte damals erklären, warum die österreichische Gemeinde Bad Ischl immer schon zahllose gesichtsverhüllte Gäste aus arabischen Ländern geduldet hat – bis die finanziellen Erträge offenbar wurden.
Noch interessanter wird das neue Weltgesicht aber angesichts der politisch- technischen Entwicklungen, wie sie in vielen früheren Einträgen hier beschrieben wurden: das fieberhafte face detection development – im Dienst der verkehrs- aber auch moralpolitischen Überwachung. Nun müssen zahllose Ausnahmeregeln getroffen werden: maskenlos soll man im Auto hinter dem Steuer besser erkannt zu werden, vor Gericht und amtlichen Instanzen natürlich ebenfalls, aber Masken sollen im staatlichen Umgang, etwa Schulen, unbedingt gelten.
Manche BürgerInnen empfinden dies nun als Akt der undemokratischen Grundrechtsberaubung. Am 29. August gab es einen denkwürdigen Prozess dazu in Berlin: Heerscharen von Regierungsgegnern aus ganz Europa, aber besonders aus Stuttgart, wollten sich ohne Schutzmaske in der Hauptstadt treffen – die Richter mussten beraten, wie sie einer drohenden Saalschlacht mit möglichst gewaltfreier Polizeimacht entgegentreten wollten.
Die heute weltweit verlangte und benutzte „Schutzmaske“, wie man besser sagen sollte, trifft nun aber eben jetzt auf eine völlig neue Szene, geradezu einen Kulturkampf. Nicht nur entstand durch die Flüchtlingsbewegung um 2015 eine aggressiv neue Sicht auf die Schleierkultur der muslimischen Welt. Durften oder dürfen Musliminnen wirklich Niqab oder gar Burka tragen, dürfen sie in der christlichen Welt mit Kopftuch öffentliche Berufe ausüben? Der Streit ist nicht entschieden, immer wieder gibt es Prozesse. Auch gibt es seit 1985 ein Vermummungsverbot für Massenversammlungen und einzelne Situationen, wie etwa eine Vermummung vor Gericht.
Nun also, seit Anfang des Jahres 2020, gilt das Gegenteil: Vermummung von zwei Dritteln des Gesichts durch einen „Mund- und Nasenschutz“ wird staatlich gefordert und zwar weltweit und ganz besonders bei Massenversammlungen. Plötzlich sehen die Menschen weltweit einander seltsam ähnlich, ein „Weltmenschengesicht“ ist unversehens entstanden, während gleichzeitig eine Rassismusdiskussion wütet. Zufall? Plötzlich verstummen auch alle möglichen Raisonnements, die uns ein Leben mit verhülltem Gesicht aus antiislamischen Motiven als mörderische Feindestat erklärt haben. Niemand wollte damals erklären, warum die österreichische Gemeinde Bad Ischl immer schon zahllose gesichtsverhüllte Gäste aus arabischen Ländern geduldet hat – bis die finanziellen Erträge offenbar wurden.
Noch interessanter wird das neue Weltgesicht aber angesichts der politisch- technischen Entwicklungen, wie sie in vielen früheren Einträgen hier beschrieben wurden: das fieberhafte face detection development – im Dienst der verkehrs- aber auch moralpolitischen Überwachung. Nun müssen zahllose Ausnahmeregeln getroffen werden: maskenlos soll man im Auto hinter dem Steuer besser erkannt zu werden, vor Gericht und amtlichen Instanzen natürlich ebenfalls, aber Masken sollen im staatlichen Umgang, etwa Schulen, unbedingt gelten.
Manche BürgerInnen empfinden dies nun als Akt der undemokratischen Grundrechtsberaubung. Am 29. August gab es einen denkwürdigen Prozess dazu in Berlin: Heerscharen von Regierungsgegnern aus ganz Europa, aber besonders aus Stuttgart, wollten sich ohne Schutzmaske in der Hauptstadt treffen – die Richter mussten beraten, wie sie einer drohenden Saalschlacht mit möglichst gewaltfreier Polizeimacht entgegentreten wollten.
Mai 2020 – Folgenabschätzung war offenbar immer schon Frauensache.
Die Nachrichten überschlagen sich - nachdem angeblich eine Firma aus Israel namens "AnyVision" für biometrische Überwachung der Westbank sorgen wird. "AnyVision", eine face detection software, mischt angeblich auch bei der kommenden Drohnenbewaffung weltweit mit. Drohnen werden gezielt genau einzelne Menschen töten und dabei filmen können. Ein riesiges Geschäft - ähnlich wie die Covid 19 Forschung.
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Ihretwegen wurden vor zwei Wochen offenbar deutsche Rechner überfallen, von Hackern. Ich lese in der FAZ vom 27. Mai, daß " die drei größten deutschen Rechner, der Hawk in Stuttgart, der Supermuc in Garching und der Juwels in Jülich von einem Hackerangriff komplett lahmgelegt" wurden. Weitere Angriffe trafen Freiburg, Dresden, Karlsruhe sowie mehrere Rechenzentren in Europa. Und auf diese Technik verlassen wir uns nun alle, diese Technik soll fieberhaft durchgesetzt werden, mit Milliarden finanziert. Welche suizidale Veranlagung begleitet das männliche Denken seit wir von Denken sprechen können. Ikarus und Prometheus waren die Urväter - ein Ding wie Folgenabschätzung war offenbar immer schon Frauensache. Eine schwangere Frau weiss, was Schwangerschaft bedeutet. Denker wie Günter Anders, der Hiroshima reflektierte wie kein zweiter, müssten neben Hannah Arendt erscheinen, statt immer wieder Heidegger aus dem Grabe zu holen.
Februar 2020 – Kulturparadoxe Szene
Was für eine kulturparadoxe Szene ergibt sich doch im Moment aus der seltsamen Corona Pandemie! Die millionenfache und weltweite Verwendung der hygienischen Gesichtsmasken liefert das westliche Pendant zur orientalischen Burka! Nicht schwarz, sondern weiss wird nun das Gesicht verhüllt und der Face Recognition Verfolgung weitgehend entzogen. Die Natur greift zur Tarnkappe, sie schützt Unterdrückte. So sieht es jetzt jedenfalls aus.
Der physiognomische Overkill der digitalen Gesellschaft geht aber natürlich immer weiter.
Der physiognomische Overkill der digitalen Gesellschaft geht aber natürlich immer weiter.
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Das natürliche Gesicht, ungeschminkt, unoperiert, unformatiert mit seinem Weinen und Lachen und Grinsen entgleitet uns, und mit ihm die naturbelassene Kommunikation im mimischer und gestischer Hinsicht. Diese Naturzüge sind längst Teil der Roboter Industrie. Ein US Startup hat vor einiger Zeit "Erika" (Name geändert) erfunden: einen Roboter in Menschengestalt, gefüttert mit Sprache und Denken einer individuellen Person. Es soll ein dialogischer Spielfreund sein, gedacht für einsame Seelen, aber auch bipolare oder depressive Geschöpfe: eigentlich also eine Art gesunder und funktionierender Zwilling. Kein Siri, sondern eben wirklich individuell und android zugeschnitten. Ein Hit in Zeiten, die "Einsamkeitsministerien" ersonnen haben?
September 2019 - Das Denisova Mädchen
Das Gesicht als physisches wie auch semantisches Schlachtfeld der Evolution zu bezeichnen ist wahrscheinlich noch untertrieben. Wieder zwei Nachrichten will ich notieren. Aus nur einem einzigen Kinder-Fingerchen von der sibirischen Denisova Höhle will man die nötigen DNA Daten zu einer Gesichtsrekonstruktion gewonnen haben.
Wie sieht das Denisova Mädchen aus?
Wie sieht das Denisova Mädchen aus?
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Die SZ vom 20. 9. berichtet eher skeptisch: " Ein wenig ernst sieht das Mädchen auf dem Bild aus. Die dunkle Stirn ist leicht gerunzelt, der breite Mund etwas geöffnet. Große Zähne hatte das Kind, olivfarbene Haut und zottelige dunkle Haare.Die Augen sind mandelförmig und braun." Das Porträt will ein Geschöpf zeigen, dessen Familie vor 50tausend Jahren ausstarb. Das Team um David Gokhman, Stanford, und Liran Carmel, Jerusalem, nutzte ein Relikt, das 2008 gefunden wurde. Eines von sehr wenigen Relikten dieser alten Homo-Art. Wir sehen also eine enorme Spekulation, vielleicht einfach ein Märchen. Warum? Ich erinnere an den spektakulären Fund eines Schädels unter dem Pflaster von Jerusalem, der um 200 n.Chr. datiert und vor einigen Jahren gesichtsrekonstruiert wurde: so ähnlich hätte Jesus aussehen können. Eine Steilvorlage für die Filmindustrie, aber auch für die Forscher*innen. Die betreffenden Institute erhalten mehr Zuwendungen, die Urheber mehr Klicks, die Laufbahn nimmt ihren Lauf.
Der zweite Fall: die dramatische Opposition gegen die Facial Recognition Industry. Nicht nur die bildende Kunst, auch die Musiker wehren sich jetzt dagegen, dass ihr Publikum stellenweise penibel registriert wird. Eine Gruppe namens "Digital rights group Fight for the Future " bezeichnet in einem BLOG namens iq-mag.net diese Technologie als ungenau, übergriffig, diskriminierend und gefährlich. Recht so - doch andererseits erfahren wir gerade von Jens Balzer, wie aberwitzig rechtsextrem dieses POP Publikum inzwischen geworden ist: vgl. seine beiden Bücher aus diesem Jahr 2019 "Pop und Populismus", sowie "Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er".
Der zweite Fall: die dramatische Opposition gegen die Facial Recognition Industry. Nicht nur die bildende Kunst, auch die Musiker wehren sich jetzt dagegen, dass ihr Publikum stellenweise penibel registriert wird. Eine Gruppe namens "Digital rights group Fight for the Future " bezeichnet in einem BLOG namens iq-mag.net diese Technologie als ungenau, übergriffig, diskriminierend und gefährlich. Recht so - doch andererseits erfahren wir gerade von Jens Balzer, wie aberwitzig rechtsextrem dieses POP Publikum inzwischen geworden ist: vgl. seine beiden Bücher aus diesem Jahr 2019 "Pop und Populismus", sowie "Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er".
September 2019 – Gesichtserkennung zum xten Mal
Der Monat beginnt mit zwei Paukenschlägen im physiognomischen Gehäuse: erstens verkündet facebook eine Schutzmaßnahme in der Gesichtswirtschaft, bei heise.de steht dazu folgendes: "In den kommenden Wochen soll die Gesichtserkennung allen Nutzern zur Verfügung stehen.
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Ist sie aktiv, wird der Nutzer weiterhin informiert, sobald ein öffentlich gepostetes Foto oder Video von ihm erscheint. Auch die Markierungsvorschläge bei Freunden erscheinen dann wie gewohnt. Dadurch soll laut Facebook die eigene Identität geschützt werden können: Etwa wenn jemand ein Profilfoto kopiert und als eigenes verwendet. Auch helfe die Funktion, um mehr relevante Inhalte zu finden, heißt es in der Erklärung". Diese Formel "allen Nutzern zur Verfügung" bedeutet: automatisch werden alle Gesichter gescannt - wenn man nämlich vergisst, diese Funktion auszuschalten. Wer verfügt über diese Gesichtermassen? Wie nahe rückt diese jetzt noch schutzversprechende Massnahme an chinesische Vorbilder, wenn man die Vergesslichkeit der User bedenkt?
Wie eine Antwort darauf wirkt die Erfindung einer jungen Künstlerin aus Leipzig. Nicole Scheller hat eine Jacke aus Armeestoff geschneidert, die ihre Träger für Kameras unsichtbar werden läßt. Verschiedene Barcodes sind über den Stoff verteilt, die das Kamera-Auge irritieren. Sie arbeitet auch an einer handy Maske. kulturzeit 3sat 3.august 2019
Wie eine Antwort darauf wirkt die Erfindung einer jungen Künstlerin aus Leipzig. Nicole Scheller hat eine Jacke aus Armeestoff geschneidert, die ihre Träger für Kameras unsichtbar werden läßt. Verschiedene Barcodes sind über den Stoff verteilt, die das Kamera-Auge irritieren. Sie arbeitet auch an einer handy Maske. kulturzeit 3sat 3.august 2019
August 2019 – Polizeiwissenschaft und Rassenkunde
Vor wenigen Wochen hat der Kameramann und Filmemacher Gerd Conradt (78) einen Film über die dramatische Situation des Gesichts vorgestellt. "FACE IT" wurde am 24n Juli im Karlsruher ZK uraufgeführt; es ist eine Bestandsaufnahme von und ein Protest gegen die Experimente, die seit geraumer Zeit am Berliner Bahnhof Südkreuz stattfinden.
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Hier können sich Probanden filmen und codieren lassen, um dann bei jedem Auftauchen am Bahnhof, jedenfalls an einer bestimmten Stelle, wiedererkennbar zu sein und also verfolgbar zu werden. Conradt interviewt alle möglichen Akteure in diesem technischen Futurium: die Techniker selber, aber auch Künstler und Protestler, sogar Kulturwissenschaftlerinnen wie Sigrid Weigel oder Politikerinnen wie Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitales, sprich digitale Aufrüstung.
In einem Interview in der WELT vom 26. Juli äussert sich Conradt mit phantasievollem Zynismus. Zu seinem Kummer gelang es ihm nicht, die Protestgruppe zu wirklichen Angriffen auf die Kameras zu bewegen; nicht einmal mit Tüchern wollte man sie verhängen. Die Stimmung schien fatalistisch. Alles sei zu spät, sagte auch der Künstler Johannes von Bismarck.
Historiker der Physiognomik wundern sich nicht. Schon Lichtenberg hat diese physiognomischen Exzesse kommen sehen, und nach Einbruch der Fotografie in den Wahrnehmungsapparat des Alltags war ohnehin kein Halten mehr. Polizeiwissenschaft und Rassenkunde waren seit der Frühen Neuzeit mit physischer Registratur befasst - in aller Regel zu Zwecken der Diskriminierung. Im Film wird ausführlich über Paul Ekman (*1934), den Vater der US-Physiognomik gesprochen. Er arbeitet seit Trump im Home Ministry als Lügendetektor. Ekman war Sohn eines Militärarztes und wurde als Heerespsychologe ausgebildet. Er konnte die Forschungen des deutschen Psychologen Philipp Lersch (1898 - 1972) rezipieren. Sie hatten ab 1939 einen Hauptzweck: Simulanten unter den Soldaten zu entdecken. Die fanatische Fragestellung "Fake oder Nichtfake" stammt aus diesem Arsenal. Leider wurde es in den USA noch nicht publik.
Neu ist heute das totalitäre chinesische Modell. Erst die von Silicon Valley erfunden Technik der smart phones erlaubt ja eine durchgängige Überwachung jedes einzelnen Menschen. Hätte man je für möglich gehalten, dass der Kalte Krieg in Wahrheit auf einen noch kälteren Frieden hinauslaufen könnte?
In einem Interview in der WELT vom 26. Juli äussert sich Conradt mit phantasievollem Zynismus. Zu seinem Kummer gelang es ihm nicht, die Protestgruppe zu wirklichen Angriffen auf die Kameras zu bewegen; nicht einmal mit Tüchern wollte man sie verhängen. Die Stimmung schien fatalistisch. Alles sei zu spät, sagte auch der Künstler Johannes von Bismarck.
Historiker der Physiognomik wundern sich nicht. Schon Lichtenberg hat diese physiognomischen Exzesse kommen sehen, und nach Einbruch der Fotografie in den Wahrnehmungsapparat des Alltags war ohnehin kein Halten mehr. Polizeiwissenschaft und Rassenkunde waren seit der Frühen Neuzeit mit physischer Registratur befasst - in aller Regel zu Zwecken der Diskriminierung. Im Film wird ausführlich über Paul Ekman (*1934), den Vater der US-Physiognomik gesprochen. Er arbeitet seit Trump im Home Ministry als Lügendetektor. Ekman war Sohn eines Militärarztes und wurde als Heerespsychologe ausgebildet. Er konnte die Forschungen des deutschen Psychologen Philipp Lersch (1898 - 1972) rezipieren. Sie hatten ab 1939 einen Hauptzweck: Simulanten unter den Soldaten zu entdecken. Die fanatische Fragestellung "Fake oder Nichtfake" stammt aus diesem Arsenal. Leider wurde es in den USA noch nicht publik.
Neu ist heute das totalitäre chinesische Modell. Erst die von Silicon Valley erfunden Technik der smart phones erlaubt ja eine durchgängige Überwachung jedes einzelnen Menschen. Hätte man je für möglich gehalten, dass der Kalte Krieg in Wahrheit auf einen noch kälteren Frieden hinauslaufen könnte?
Juni 2019 – Die Spaltung des physiognomischen Diskurses
Die Spaltung des physiognomischen Diskurses nimmt täglich zu. Einerseits Rückkehr zur alten philosophisch-literarischen Physiognomik, wie sie etwa Matthias Weichelt in seinem Bildband über Peter Huchel wieder erstehen lässt (Berlin 2018); andererseits die Wut der Aktionäre gegen Geschäfte mit Gesichtserkennungssoftware, etwa bei amazon oder überhaupt bei Banken.
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Deren Überwachungssoftware hat nacheinander den menschlichen Fingerabdruck, die menschliche Iris, das Gesicht überhaupt und zuletzt die menschliche Stimme verbraucht: allerdings zeigen Umfragen,dass gegen alle biometrischen Verwendungen im online banking Skepsis besteht, Zustimmungen gehen kaum über 15% hinaus. Was in China zur Sozialkontrolle benutzt wird, geht aber offenbar weit über die europäische Technologie hinaus. Hierzulande sind die Kontrollen am Flughafen mit 61 % Akzeptanz am höchsten, sagt die WELT am 18.April 2019.
Januar 2019- Kurzer Rückblick auf den Diskurs
Zum Jahresbeginn hier ein Rückblick auf den Gesichtsdiskurs in SZ und FAZ vor, während und nach der Einführung der Face Phones zwischen Juli 2017 und April 2018.
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SZ Juli 2017: "Das Gesicht gilt als Fenster der Seele. Tatsächlich leiten die meisten Menschen aus dem Antlitz ihres Gegenübers unwillkürlich ab, mit was für einer Person sie es zu tun haben - und liegen damit weit daneben."
FAZ August 2017: " Was das Gesicht nicht alles ist. Selbstausdruck oder Maske... Aber nicht jedes menschliche Antlitz lässt sich deuten."
SZ September 2017: "Die Jagd auf das Antlitz. Das fotografische Porträt fixiert, vermisst und erforscht das Gesicht - auch das von Patienten und Delinquenten."
FAZ September 2017: " Können wir unser Gesicht noch wahren? Wissenschaftler haben einer künstlichen Intelligenz beigebracht, an Fotos zu erkennen, welche sexuelle Orientierung ein Mensch hat."
SZ September 2017: " Gesichtserkennung bei Handys ist praktisch, aber gefährlich." - "Apples neue Gesichtserkennung wird mit viel Technik und Aufwand betrieben. " - "Die Gesichtserkennung in Smartphones verunsichert viele. Doch die wahren Gefahren lauern anderswo."- "Auge in Auge. Überwachungskameras, Handykameras, Gesichtserkennung - niemand bleibt unbeobachtet".
SZ Oktober 2017: "Verbrechen und Versprechen. Andreas Bernards Buch >Komplizen des Erkennungsdienstes< diagnostiziert ein fatales Selbstbild in der digitalen Kultur."
SZ November 2017: " Entsperren mit Maske. Sicherheitsforscher haben offenbar die Gesichtserkennung des iPhonex geknackt."
FAZ Dezember 2018: "Die hundert Arten des Lächelns. Der Mensch ist ein Meister im Lesen von Gesichtern. Doch sein Urteil liegt erstaunlich häufig daneben."
SZ Januar 2018: " Ein Lächeln von gestern. Mit unzähligen Emojis lassen sich Gefühle heute so präzise ausdrücken wie nie. Der klassische Smiley hat eine völlig neue Bedeutung bekommen."
SZ Februar 2018: "Roboter und Computerprogramme lernen, Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren. Die Systeme simulieren bereits Bewerbungsgespräche und können Autisten die Gefühle ihrer Mitmenschen erklären."
SZ Februar 2018: "Wie kommt Emma Watson in einen Hardcore Porno? Mit einer App, die Gesichter in Filme kopieren kann. Über den jüngsten Triumph der KI."
SZ Februar 2018: "Augen auf. Chinas KP erfüllt sich den Traum aller autoritären Herrscher, die totale Überwachung und Kontrolle des Volkes."
SZ April 2018: " Auf der falschen Spur. Angeblich kann moderne künstliche Intelligenz sexuelle Orientierung, kriminelle Neigung und andere menschliche Eigenschaften an Gesichtern ablesen. Doch in der Praxis gibt es viele Probleme. "
FAZ August 2017: " Was das Gesicht nicht alles ist. Selbstausdruck oder Maske... Aber nicht jedes menschliche Antlitz lässt sich deuten."
SZ September 2017: "Die Jagd auf das Antlitz. Das fotografische Porträt fixiert, vermisst und erforscht das Gesicht - auch das von Patienten und Delinquenten."
FAZ September 2017: " Können wir unser Gesicht noch wahren? Wissenschaftler haben einer künstlichen Intelligenz beigebracht, an Fotos zu erkennen, welche sexuelle Orientierung ein Mensch hat."
SZ September 2017: " Gesichtserkennung bei Handys ist praktisch, aber gefährlich." - "Apples neue Gesichtserkennung wird mit viel Technik und Aufwand betrieben. " - "Die Gesichtserkennung in Smartphones verunsichert viele. Doch die wahren Gefahren lauern anderswo."- "Auge in Auge. Überwachungskameras, Handykameras, Gesichtserkennung - niemand bleibt unbeobachtet".
SZ Oktober 2017: "Verbrechen und Versprechen. Andreas Bernards Buch >Komplizen des Erkennungsdienstes< diagnostiziert ein fatales Selbstbild in der digitalen Kultur."
SZ November 2017: " Entsperren mit Maske. Sicherheitsforscher haben offenbar die Gesichtserkennung des iPhonex geknackt."
FAZ Dezember 2018: "Die hundert Arten des Lächelns. Der Mensch ist ein Meister im Lesen von Gesichtern. Doch sein Urteil liegt erstaunlich häufig daneben."
SZ Januar 2018: " Ein Lächeln von gestern. Mit unzähligen Emojis lassen sich Gefühle heute so präzise ausdrücken wie nie. Der klassische Smiley hat eine völlig neue Bedeutung bekommen."
SZ Februar 2018: "Roboter und Computerprogramme lernen, Emotionen zu erkennen und darauf zu reagieren. Die Systeme simulieren bereits Bewerbungsgespräche und können Autisten die Gefühle ihrer Mitmenschen erklären."
SZ Februar 2018: "Wie kommt Emma Watson in einen Hardcore Porno? Mit einer App, die Gesichter in Filme kopieren kann. Über den jüngsten Triumph der KI."
SZ Februar 2018: "Augen auf. Chinas KP erfüllt sich den Traum aller autoritären Herrscher, die totale Überwachung und Kontrolle des Volkes."
SZ April 2018: " Auf der falschen Spur. Angeblich kann moderne künstliche Intelligenz sexuelle Orientierung, kriminelle Neigung und andere menschliche Eigenschaften an Gesichtern ablesen. Doch in der Praxis gibt es viele Probleme. "
Juni 2018 – Physiognomische Tabus
Gesichtsrundschau: wenige Logbücher sind so auf Zuwachs programmiert wie diese faziale Rundschau, die ich seit 2010 führe, aber schon etwa 1991 viel unsystematischer begonnen habe. Mein Buch „Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Geschichte der Physiognomik“ erschien 1995 im damals noch existierenden Verlag der ostdeutschen Akademie der Wissenschaften und holte für das wiedervereinigte Deutschland eine Denkwelt zurück, die man aus dem deutschen Diskurs seit 1945 verbannt hatte: sie erschien zu stark vom NS-Rassismus verderbt. Und das stimmte ja auch. Nur konnte dieses physiognomische Tabu weder die Tatsache leugnen, dass Menschen Gesichter haben, noch dass sie einen wesentlichen Teil ihrer Kommunikation über diese Gesichter vollziehen, in Gestalt der Mimik und natürlich der Stimme. Beides wurde zwar von Film und Fotografie zu höchster Raffinesse weiterentwickelt, aber die abstrakte Malerei nach 1945 huldigte ersteinmal dem physiognomischen Tabu. Nur wenige Künstler wagten sich an das Sujet: wer sich mit dem Menschengesicht im Jahre Null befasst, findet Maler wie Gerhart Altenbourg als Schlüsselfigur neben der „Art Brut“ eines Jean Dubuffet. Beiden könnte man eine Art “faziales Stottern“ in der Kunst attestieren.
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Weiter als heute könnte man von diesem Tasten und Suchen nicht entfernt sein. Täglich erreichen uns Nachrichten von der „Gesichtsfront“: sei sie kosmetisch, supervisionistisch, epigraphisch oder gleich artifiziell im Sinne der Künstlichen Intelligenz. Roboter, die in unseren Alltag eingeschleust werden sollen, müssen nicht nur unsere Gesichter erkennen, unsere Mimik lesen und unsere Stimme hören können, sondern eben auch selber Gesichter haben, deren Mienenspiel uns vertraut werden soll.
Eine der wuchtigsten Anwendungen physiognomischer Diagnostik stammt seit dem 13. Jahrhundert aus der Psychologie oder Charakterlehre, im 18. Jahrhundert auch Menschenkenntnis genannt, im 19n dann rabiat zur visuellen Kriminalistik und Rassenkunde erweitert. Dass man im Hitlerismus Menschen aus den Häusern zur Deportation holte, nur weil sie „jüdisch“ aussahen, war ein lange vorbereiteter, absolut biblischer Sündenfall der Naturwissenschaft. Viel ist zu diesem Thema geforscht worden, aber wenige Bücher haben so viel Detailwissen über diesen Abgrund vermittelt wie das eben erschienene von Axel Doßmann und Susanne Regener: „Fabrikation eines Verbrechens“, Spector Books Leipzig 2018. Es geht um einen legendären Kriminalfall aus Hitlers Reich, um den „Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte“. Das Buch im Folioformat rekonstruiert eine widerliche Story um einen zwangsterilisierten Berliner Kutscher, der 1944 von der NS-Polizei als Massenmörder hingerichtet wurde. Das Urteil traf nicht zu: Doßmann und Regener rekonstruieren diesen unerhörten Fall sowohl in der NS-Geschichte als auch in der folgenden Visual History der Nachkriegsjournalistik. „Die Konstruktion des Bösen und Anormalen und ihre gesellschaftlichen Funktionen in Diktatur und Demokratie“ ist ein Lehrstück für den diskriminierenden Blick unserer unmittelbaren Gegenwart geworden.
Eine der wuchtigsten Anwendungen physiognomischer Diagnostik stammt seit dem 13. Jahrhundert aus der Psychologie oder Charakterlehre, im 18. Jahrhundert auch Menschenkenntnis genannt, im 19n dann rabiat zur visuellen Kriminalistik und Rassenkunde erweitert. Dass man im Hitlerismus Menschen aus den Häusern zur Deportation holte, nur weil sie „jüdisch“ aussahen, war ein lange vorbereiteter, absolut biblischer Sündenfall der Naturwissenschaft. Viel ist zu diesem Thema geforscht worden, aber wenige Bücher haben so viel Detailwissen über diesen Abgrund vermittelt wie das eben erschienene von Axel Doßmann und Susanne Regener: „Fabrikation eines Verbrechens“, Spector Books Leipzig 2018. Es geht um einen legendären Kriminalfall aus Hitlers Reich, um den „Kriminalfall Bruno Lüdke als Mediengeschichte“. Das Buch im Folioformat rekonstruiert eine widerliche Story um einen zwangsterilisierten Berliner Kutscher, der 1944 von der NS-Polizei als Massenmörder hingerichtet wurde. Das Urteil traf nicht zu: Doßmann und Regener rekonstruieren diesen unerhörten Fall sowohl in der NS-Geschichte als auch in der folgenden Visual History der Nachkriegsjournalistik. „Die Konstruktion des Bösen und Anormalen und ihre gesellschaftlichen Funktionen in Diktatur und Demokratie“ ist ein Lehrstück für den diskriminierenden Blick unserer unmittelbaren Gegenwart geworden.
November 2016 – Von einer Nudität war keine Rede
Soeben erschienen ist ein Tagungsband aus Lausanne über "Physiognomisches Schreiben. Stilistik, Rhetorik und Poetik einer gestaltdeutenden Kulturtechnik", hg. von Hans-Georg von Arburg, Benedikt Tremp und Elias Zimmermann. Es ist ein Band aus der Reihe "Das unsichere Wissen der Literatur" (Rombach in Freiburg i.Br.), die hier nun also den Topos des ungefähren und trügerischen Wissens aufnimmt, den wir mit der physischen Wahrnehmung assoziieren müssen. Das weitgespannte Themenfeld reicht von Lavater bis zu Kafka, von Handschriften- über Architektur - Tanz- und Stimmdeutung. Dass bei einer Publikation aus der Schweiz wieder der Terminus "physiognomisch" in einem neutralen Sinne verwendet wird, ist zu begrüßen. Er hat bekanntlich eine enorme Begriffsgeschichte hinter sich und es ist töricht, ihn zu vermeiden, wie im neuen Heft der Zeitschrift Fotogeschichte (140, Jg.36), zumal wenn dort Forschungen zur Charakterdeutung in den 1930er Jahren vorgestellt werden. Tatsächlich wird in diesem Wintersemester 2016/17 auch in Berlin eine ganze Ringvorlesung über Physiognomik in der Antike durchgeführt: ein inzwischen gut beforschtes Gebiet, das aber immer noch weitere Präzisierungen im orientalischen Bereich verlangt.
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Wie dicht der physische und der metaphorische Begriff des Gesichts aneinander gefesselt bleiben, kann man am Management von Facebook verfolgen. Die dringende Bitte, auf Facebook keinen gesichtszerstörenden hate speech zuzulassen, entspricht dem Bewußtsein einer nahen Beziehung. Dass es gleichwohl keine identische ist, musste man jüngst in der Diskussion um die Burka immer wieder verteidigen. "Gesicht zeigen": so hiess eine Bewegung, die im Jahr 2002 von Uwe Carsten Heye, einem hochrangigen Politiker der SPD, ins Leben gerufen wurde. "Gesicht zeigen" sollte man gegen Rassismus und Antisemitismus - im Sinne von moralischer Standfestigkeit gegen beides. Von einer Nudität war keine Rede. Die Burkafeinde, die nur noch nackte Gesichter sehen wollen, haben den Satz in sein Gegenteil verkehrt, zur allgemeinen Konfusion.
Oktober 2016 – Schlagrahm mitten ins Gesicht
Das Rad der physiogonomischen Hysterie dreht sich immer schneller. Am 1. Oktober teilte die Neue Zürcher Zeitung mit, dass sich als Spiel des Jahres ein Game namens "Pie Face" herausgestellt hat. Die NZZ schreibt: "Es wurde 1968 erstmals von Hasbor veröffentlicht, die Lizenz ging später aber an Rocket Games über. Das Spiel geriet in Vergessenheit, bis in der Vorweihnachtszeit 2014 ein Video auf Facebook über 30 Millionen mal geteilt wurde: Es zeigt den Barbier-Salon-Besitzer Martin O'Brien aus dem schottischen Wishaw, wie er mit seinem Enkel Pie Face spielt, dabei viel Spass hat und Schlagrahm mitten ins Gesicht bekommt. (...) Das Ganze ist ein Kinderspiel und soll Spass machen, mehr nicht." Und doch wurde es ein Millionenseller nicht nur für Kinder. Man könnte sagen: es hat endlich Facebook um ein Kinderformat erweitert. Bedenkt man, dass noch vor rund 6 Jahren deutsche Studenten das Wort Facebook nicht übersetzen konnten, weil der Name für sie nur ein Laut war, ist das doch ein Fortschritt.
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Ernster ist schon die neue "Enke App". Sie wurde vor ein paar Tagen vom DFB vorgestellt, der Name stammt vom ehemaligen Nationaltorwart Enke. Ein Torwart muss Schüsse ins Tor abwehren, so wie wir normalerweise doch auch Torten vor dem Gesicht aufhalten. Die Enke App. gehört zur Gruppe der gesichtserkennenden Computer, des "Affective Computing", dem sich vor allem das Institute for Creative Technologies in LA widmet. Hier werden auch robotische Therapeuten entwickelt, wie die frühe Eliza, denen sich Menschen offenbar nicht ungern eröffnen, weil sie Mimik und Stimme der Patienten genauestens registrieren und deuten können. Auch Lehrer werden inzwischen so hergestellt, die auf die Schüler mehr Eindruck machen, weil sie irgendwie lustig und neutral wirken. "Overtrust" nennt man diese Einstelllung, die vom Fraunhofer Institut hierzulande erforscht und genutzt wird. Der Ethiker Arne Manzeschke begleitet diese Entwicklungen. Er fürchtet weniger den Fortschritt der Technik als vielmehr die menschliche Bereitschaft, sich selbst als Maschine zu begreifen.
Geradezu atemberaubend in dieser Hinsicht ist das Interview mit den Chefs von Microsoft im SPIEGEL vom 15. Oktober. Nicht nur ist diesen Machern die soziale Welt völlig gleichgültig, sie sehen sie auch schon durch das Cloud Computing vollkommen umgestaltet. Wie die Welt sich den Strom besorgen soll, den man zu all diesen smart objects benötigt, bleibt unbesprochen.
Geradezu atemberaubend in dieser Hinsicht ist das Interview mit den Chefs von Microsoft im SPIEGEL vom 15. Oktober. Nicht nur ist diesen Machern die soziale Welt völlig gleichgültig, sie sehen sie auch schon durch das Cloud Computing vollkommen umgestaltet. Wie die Welt sich den Strom besorgen soll, den man zu all diesen smart objects benötigt, bleibt unbesprochen.
Juli 2016 – intelligenten Maschinen
In der FAZ vom 8. Mai 2016 erschien ein langer Artikel von Friederike Haupt: "Middelhoffs Lächeln. Was Journalisten in einem Gesicht lesen können. Oder wollen." Der Artikel bot ein wunderbares Beispiel für die dauerhafte Dienlichkeit physiognomischen Raisonnierens. Der ungeheure Sturz des einstigen Chefs von Bertelsmann zum Assistenten einer Behindertenwerkstatt in Bethel, geschildert am Leitfaden seines Siegerlächelns, das schliesslich aber doch in den letzten Krankheitszuständen verschwand. Der Sozialphilosoph und Anthropologe Helmut Plessner hat dem Lächeln 1950 eine eindringliche Studie gewidmet und diese mimische Kundgabe zu den eigentlich menschlichen gezählt, eben weil es so unendlich vieldeutig ist.Es ist die Miene eines "Mängelwesens", um Arnold Gehlen zu zitieren. Wie anders hat das noch Charles Darwin gesehen. Er fand das eigentlich humane Mienenspiel im Erröten: denn nur der kommunikative und schambereite Mensch kann sein Gegenüber wissen lassen, dass er weiss, was dieser von ihm denken könnte, ohne es zu sagen. Stellvertretend für eine ganze Klasse der sozialen Schichtung kannte Herr Middelhoff diese Miene offensichtlich nicht und strafte dergestalt Darwins Naturgesetz leider Lügen.
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Zwei andere Artikel aus diesem Frühsommer lassen die technischen Wege der Gesichtserkennung erkennen. Die Münchner Messe namens "Automatica" hat die bestürzend weit gediehene Roboter Industrie vorgeführt: Demnach sollen alle möglichen Maschinen "Augen" erhalten, mit denen sie erkennen können, ob Menschen in gefährliche Nähe kommen, oder wie man sich sicher durch bestimmte Fertigungsstraßen bewegt. 58 Prozent der deutschen Unternehmen haben mit intelligenten Maschinen gute Erfahrungen gemacht; 86 Prozent erwarten weitere Verbesserungen. Die Roboter Generation 4.0 hilft schon in den Altenheimen Menschen tragen. Wenn sie erst Augen haben, wird es eine atemberaubende Kommunikation geben. - Umgekehrt haben russische Tüftler jetzt eine handliche Technik der absolut einseitigen Überwachung erfunden, eine App namens "FindFace", die es erlaubt, auf allen Fotos Gesichter den sonstwo notierten Biodaten zuzuordnen.
Bemerkenswert ist auch die neue Ausgabe der Zeitschrift Fotogeschichte. Heft 140 /2016 hat zum Thema Psychologie und Fotografie einen Aufsatz von Beatriz Pichel "Die Psychologie des Lächelns bei Georges Dumas." Alle Artikel des Heftes befassen sich mit Themen der älteren Physiognomik, verwenden aber den Terminus nicht mehr, nicht einmal in der Einleitung. Das ist schade, denn so wird der gewaltige Unter- und Überbau dieser Forschungen nicht mehr erkenntlich. Will man das - und wenn ja, warum?
Bemerkenswert ist auch die neue Ausgabe der Zeitschrift Fotogeschichte. Heft 140 /2016 hat zum Thema Psychologie und Fotografie einen Aufsatz von Beatriz Pichel "Die Psychologie des Lächelns bei Georges Dumas." Alle Artikel des Heftes befassen sich mit Themen der älteren Physiognomik, verwenden aber den Terminus nicht mehr, nicht einmal in der Einleitung. Das ist schade, denn so wird der gewaltige Unter- und Überbau dieser Forschungen nicht mehr erkenntlich. Will man das - und wenn ja, warum?
Januar 2016 – Wohin also gehört der faziale Diskurs?
Inzwischen ist der Strom der Publikationen zum Thema Gesicht weiter angeschwollen - teils im Gefolge jener "Menschenfassung" (Walter Seitter), die uns Facebook qua "Gesichtsbuch" eingebracht hat, teils aber auch im Gefolge der fieberhaften Digitalisierung von großen Porträtarchiven, wie zuletzt im Forschungsverbund der drei großen Archive Weimar, Wolfenbüttel und Marbach, oder auch im Kunstarchiv von Nürnberg. Weithin besprochen wurden ausserdem die Bücher von Hans Belting, "Faces. Eine Geschichte des Gesichts" , Beck Verlag München 2014, sowie Valentin Groebner, "Ich-Plakate. Das Gesicht als Aufmerksamkeitsmaschine", Beck Verlag München 2015; leidenschaftlich diskutiert wurden die Mode des Selfie und als Gegenstück immer wieder die Gesichtserkennungstechnik im Zuge des Terrorismus. Gerade eben haben zwei Autoren zwei der wichtigsten visuellen Dispositive erörtert: Gerhard Paul, der Historiker aus Flensburg, mit seinem Buch "Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Bild und Bildpraxen in der Geschichte" Wallstein Göttingen 2016, sowie Sibylle Krämer mit ihrer jahrelangen Befassung mit der sogenannten "Diagrammatik" ( in Vorbereitung).
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Alle sechs genannten Ansätze spiegeln aber allenfalls die deutsche Diskussion, die ja immer eine deutschschweizerische ist, wenn man den Einfluss von Lavater bedenkt; alle sechs zeigen allenfalls den Trend der letzten Jahre auf, der unübersehbar von technischen Direktiven beherrscht wird. Der lebendige Körper, zu dem ein Gesicht gehört, ist aus diesen Diskursen weitgehend verschwunden - während doch gleichzeitig der lebendige Mensch in Gestalt flüchtender,verletzter, schreiender und sterbender Personen mit Namen, Stimme und Geschichte unser Interesse und unsere Fürsorge mehr denn je verlangt. Wohin also gehört der faziale Diskurs? Man muss darüber nachdenken, mehr denn je.
Februar 2015 – Wellcome Foundation
Wer sich ausdauernd mit der Geschichte der Physiognomik befasst, sammelt Material und Bibliographien in Buchform, Kopien und Datenbanken. Nachdem meine Büchersammlung von rund 450 Bänden im Getty Institute aufgenommen wurde, harrt nun noch mein Archiv aus einer inzwischen fast 25jährigen Forschung der sinnvollen Überführung in eine akademische Umgebung und der Zusammenführung mit anderen Leistungen dieser Art. Vor allem der Aachener Kunsthistoriker Peter Gerlach hat eine große Datenbank zu einer mehr als 2000jährigen Geschichte angefertigt, mit enormer Präzision Titel aufgenommen und Sekundärliteratur hinzugefügt. Auch in London gibt es einen solchen Überblick, die bekannte Wellcome Foundation hat ja jahrelange Workshops zum Thema finanziert. Weiterführende Nachrichten werden hier folgen!
Dezember 2014
Natürlich gibt es seit dem letzten Eintrag Fortschritte in Gesichtswirtschaft wie auch - wissenschaft. Die drei großen Bücher von Hans Belting, Sigrid Weigel und Daniela Bohde (rezensiert in literaturkritik.de) vertreten die These von der grundsätzlich artefaktischen Maskenhaftigkeit des Gesichts: dabei vergisst man freilich, dass jedes artefaktische Gesicht den Namen Gesicht nicht mehr verdient, da tote Augen kein Gegenüber erkennen können. Die astronomisch wachsende Zahl der artefaktischen Gesichter im medialen Raum vermehrt also die Zahl der Toten auf Erden sozusagen milliardenfach.
Jenseits dieser kunstwissenschaftlichen Spekulation gibt es aber natürlich die ebenfalls weiter wachsende Überwachungsneurologie; Valentin Groebner widmet sich ihr soeben; und weiter wächst auch die digitale Verarbeitung der gigantischen Porträtbestände in unseren historischen Archiven. Der neue Museumsverbund von Weimar, Wolfenbüttel und Marbach hat dazu eigene Stellen ausgeschrieben und auf der website einen blog eingerichtet: www.mww-forschung.de
Jenseits dieser kunstwissenschaftlichen Spekulation gibt es aber natürlich die ebenfalls weiter wachsende Überwachungsneurologie; Valentin Groebner widmet sich ihr soeben; und weiter wächst auch die digitale Verarbeitung der gigantischen Porträtbestände in unseren historischen Archiven. Der neue Museumsverbund von Weimar, Wolfenbüttel und Marbach hat dazu eigene Stellen ausgeschrieben und auf der website einen blog eingerichtet: www.mww-forschung.de
Januar Februar 2012
Oft wurde in dieser Rundschau auf Facebook verwiesen - es muss sein, weil viele Leute garnicht realisieren, dass Facebook auf deutsch eben "Gesichtsbuch" heißt, sodass alles, was im Namen von Facebook verhandelt wird, in gewisser und oft auch ganz direkter Weise mit dem Gesicht zu tun hat. Die neueste Nachricht aus der FacebookWelt ist mal wieder erschreckend. In der sonntaz vom 25.26.Februar stand in einem Artikel von Nicola Schwarzmaier, dass man inzwischen bei eBay "Freunde ersteigern" kann. Ein Mann namens Müller erhält mit dieser Geschäftsidee täglich 20 bis 40 Aufträge. Er verkauft über seine Firma Facebook-Freundschaften und -Likes. Sie werden getauscht und mit Creditpoints bezahlt. Ein hübsches Mädchen hat angeblich 132tausend Dollar mit der Versteigerung ihres Eintrags verdient. Was sagt uns das?
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Gleichzeitig erfahren wir von einer umfangreichen Retrospektive der Malerin Cindy Sherman in New York, die immer wieder nur ihr eigenes Porträt darbietet, wenn auch in unglaublich vielen Posen und Verkleidungen. Und die FAZ bringt uns den neuesten Stand der Gesichtserkennungstechnologie. Angeblich kann man in der Oxfordstreet in London einen Blick in einen Werbekasten mit einer Kamera werfen, die das Geschlecht des Betrachters erkennt und einen jeweils andern Film interaktiv darbietet. Frauen werden um Spenden für ein Kinderhilfswerk gebeten, Männer werden zur Internetseite des Unternehmens geführt.
Dezember 2011
Auch im Dezember wird am Gesicht wieder an allen möglichen Fronten gearbeitet, künstlerisch, technisch, medizinisch, ökonomisch, usw. Um nur etwas aus Kunstszene zu berichten: Da ist das neue Buch des Fotografen Abé Frajndlich, der hundert Porträts von Kollegen aus den letzten 30 Jahren arrangiert hat, erschienen bei Schirmer/Mosel in München. Da ist die neue Ausstellung des israelischen Bildhauers Gil Shachar (*1965) im Stadtmuseum Siegburg, "Das geheime Leben der Skulpturen" heißt sie und zeigt Wachsabgüsse von lebenden Personen, die anschließend koloriert werden und zum Teil völlig naturalistisch aussehen. Es sind Gegenstücke zu Gunter von Hagens Körperwelten, kommen sozusagen von der andern Seite des Tunnels, nämlich der Mimesis anstelle der Plastination. Die Augen dieser Figuren bleiben geschlossen, so wahrt das Kunstwerk seine Distanz als künstliche Schöpfung; und dennoch, mit der Erinnerung an den Golem aus jüdischer Tradition, vermitteln sie auch eine Ahnung von einem möglichen, erschreckenden, ungeheuren Umschlag ins Leben.
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Wiederum eine andere Obsession wird aus New York berichtet (FAZ 20.12.2011): hier versucht der Künstler Jason Polan seit 2008 sämtliche New Yorker zu zeichnen! Angeblich hat er schon 16tausend skizziert, alle namenlos, aber mit Datum, und also eine Art Gegenstück zu der halben Milliarde von Individualporträts, die sich inzwischen bei Facebook versammelt haben.
Am anrührendsten aber ist die Nachricht aus Japan. Hier hat eine Familie von Puppenmachern begonnen, den Hinterbliebenen von Tsunamiopfern kleine Figuren zu fertigen, die das Gesicht der Toten tragen. „Ähnlichkeitspuppen“, ein Liebesdienst aus dem Ort Iwatsuki, für alle umsonst zu haben.
Am anrührendsten aber ist die Nachricht aus Japan. Hier hat eine Familie von Puppenmachern begonnen, den Hinterbliebenen von Tsunamiopfern kleine Figuren zu fertigen, die das Gesicht der Toten tragen. „Ähnlichkeitspuppen“, ein Liebesdienst aus dem Ort Iwatsuki, für alle umsonst zu haben.
November 2011
Eine sehr interessante Studie hat die SZ am 15. November bekannt gemacht, von Alexander Kogan und Kollegen von der Universität Toronto. Man hat offenbar ein Physiognomik-Gen gefunden: Menschen, die darüber verfügen, zeigen mehr Empathie als andere, können die körpersprachlichen Signale besser und schneller entziffern. Das stellt die ganze Diskussion natürlich auf andere Füße!
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Gleichzeitig wuchern Forschungen mit abstrusen Fragestellungen, wie etwa nach dem Gesichtsindex eines CEOs - Chief Executive Officer - : Das Knochenbauverhältnis von Breite zu Höhe verrät angeblich leadership Kompetenz. Studien dieser Art, die ausschließlich auf Bilder rekurrieren, rechnen damit, dass "head hunters" gleichfalls eher auf Bilder reagieren als auf lebende Personen. Realistisch daran ist freilich, dass in den globalen Unternehmen von heute auch die Angestellten ihre Chefs eher auf einem Bildschirm erleben als life, also auch ihrerseits eher auf die medial vermittelte Physiognomie reagieren können. Was alle Facebook User darin bestätigt, ihre Fotos möglichst vorteilhaft zu gestalten!
Oktober 2011
Der neue Film von Steven Spielberg zeigt den weltbeliebten Comic des Belgiers Hergé, Das Geheimnis der Einhorn in einer oszillierenden Theatralik, mit perfekter "digitaler Maske": "Zum ersten Mal hat man nicht mehr das Gefühl, es mit einem schlechten Kompromiss aus Real- und Trickfilm zu tun zu haben sondern mit einer eigenständigen Filmästhetik. Das liegt allerdings weniger an der fortgeschrittenen Technik als an der Personenregie von Steven Spielberg", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR.
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Andere Kritiker sind nicht so begeistert, wie zum Beispiel Fritz Göttler von der SZ vom 26.10., der meint, der Film lande "in einem toten Niemandsland... mit monströsen Figuren, die bei aller Rasanz, zu der die Dramaturgie sie verdonnert, ihre plastilinöse Plumpheit nicht kaschieren können." Auch Andreas Platthaus in der FAZ moniert vieles und vor allem das Fehlen einiger hoch beliebter Szenen. Der ungeheure Aufwand, mithilfe der sog. Motion-Capturing-Technik gezeichnete Figuren zu vermenschlichen, demonstriert die Zielführung der Kinowelt: den Schauspieler letztlich zu ersetzen, wie schon bei "Avatar". Die 3D-Technik, die mehr und mehr die Kinos erobert und zum Umbau ihrer Technik zwingt, ist dabei nur ein Baustein. In wessen Gesicht schauen wir dann in Zukunft?
September/Oktober 2011
Am 7. Oktober zeigte arte eine Art physiognomischer Reportage unter dem Titel "Durchschaut: Das Rätsel der Gesichter": einen Film von rund 55 Minuten, hergestellt von Luise Wagner und Andrea Cross. Es gab eine Einleitung über Paul Ekman, den wir hier schon öfter erwähnt haben, dann ein Interview mit einem ehemaligen Geheimdienstler, offenbar ein begabter Mienenleser, ferner ein Kapitel über einen Autisten und die neuesten therapeutischen Maßnahmen, Interviews mit Ethnologen, sowie mit einem Neurologen in Berlin, der versucht, Lügen gleich im Gehirn zu entdecken.
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Noch funktioniert das nicht, und die ernüchternde Botschaft des Ganzen ist ohnehin: mimische Kundgaben werden kulturell unterschiedlich entziffert, Autisten sind nicht wirklich heilbar, die Lügenentdeckungstechnik Paul Ekmanns wenig ergiebig, auch wenn dieser enorm viel Geld damit verdient. Was man wissen sollte: Ekmans Facial Action Coding System (FACS) ist maßgeschneidert für InternetUser, die fremde Gesichter auf einem Screen ausgiebig zoomen können! Daher also auch für die Überwachungstechniker, Kunsthistoriker, DVD Verbraucher geeignet.
August 2011
Wie schon angekündigt, hat die große Ausstellung "Gesichter der Renaissance" im Berliner Bode Museum inzwischen ihre Pforten geöffnet: 170 Exponate sind zu besichtigen, darunter Gemälde von Antonello da Messina, Gentile Bellini, Antonio de Pollaiuolo, Sandro Botticelli, Leonardo da Vinci und Donatello. Hinzukommen Büsten und Medaillen, um möglichst sämtliche Porträtversionen und -funktionen des 15. Jahrhunderts an den Höfen Florenz, Venedig und Norditalien anschaulich zu machen. Der Liebling scheint "Die Dame mit dem Hermelin" von Leonardo , aus dem Jahr 1490, zu werden: das Porträt der Geliebten des Mailänder Herzogs Ludovico Sforza.
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Ebenfalls Aufsehen erregt hat ein Buch von Günter Karl Bose (Hrsg.)," Photomaton. 500 Automatenbilder: Frauen, Männer, Kinder. 1928-1945." Institut für Buchkunst in Leipzig, sehr gelenkig rezensiert von Christian Geyer in der FAZ vom 18. August. Die Besprechung zeigt einmal mehr, wie viel nicht nur im Auge des Betrachters liegt, sondern vor allem in seiner Sprache, in seinem assoziativen Horizont, der von akademischer Seite in aller Regel verengt wird.
Den Gipfel des physiognomischen August brachte aber die Süddeutsche Zeitung mit einer Collage von zwölf MerkelGesichtern, alle mehr oder weniger entstellend, jedenfalls karikaturistisch ausgesucht und montiert. Ein Rückblick auf die Blüte der physiognomischen Denunziation im 19. Jahrhundert, als Daumier die Parlamentarier insgesamt als groteske Masken vorführte und Louis-Philippe als "Poire", als Birne unsterblich machte.
Den Gipfel des physiognomischen August brachte aber die Süddeutsche Zeitung mit einer Collage von zwölf MerkelGesichtern, alle mehr oder weniger entstellend, jedenfalls karikaturistisch ausgesucht und montiert. Ein Rückblick auf die Blüte der physiognomischen Denunziation im 19. Jahrhundert, als Daumier die Parlamentarier insgesamt als groteske Masken vorführte und Louis-Philippe als "Poire", als Birne unsterblich machte.
Juni/Juli 2011
Denkwürdig fand unlängst die FAZ die Tatsache, dass Facebook inzwischen einen Gesichtserkennungsdienst auf den eigenen Seiten freigeschaltet hat. Von nun an kann man jedem Mitglied, das auf einem Foto übermittelt erscheint, einen Namen zuordnen. Angeblich eine praktische Erfindung, auch wenn die Zuordnungen nicht immer stimmen. Mit Recht schreibt aber die Zeitung am 13. Juli auf der ersten Seite: "Rasterfahnder werden das auch so sehen" - und ermahnt die User, dass man den Dienst auch nachträglich deaktivieren kann. "Vielleicht wäre jetzt der richtige Augenblick."
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Parallel dazu erfahren wir aus dem New Scientist von einer neuen Erfindung: einer Brille, welche die aktuelle Stimmung des Gesprächspartners erkennen helfen soll. Rosalind Picard vom MIT hat in diese Brille eine Kamera eingebaut, die im Gesicht des Gegenübers 24 verschiedene Punkte abtastet, die Wiederholungen der Mienen registriert und das Schema mit sechs gespeicherten Gesichtsausdrücken aus der Forschung vergleicht. Es sind dies die Mienen von Denken, Zustimmung, Konzentration, Interesse, Verwirrung und Ablehnung - als könne man dies wirklich eindeutig fixieren. Das Ergebnis wird über Lautsprecher am Brillengestell mitgeteilt. Das Ganze soll natürlich eigentlich der Kontrolle der Werbung dienen: kommt sie an oder nicht?
Mai 2011
Das Jahr 2011 will wenigstens hierzulande offenbar zum Jahr des Gesichts werden. Nicht nur die steigende Zahl der Operationen - siehe den Eintrag vom April -, die neuen Mitgliederrekorde bei Facebook, (inzwischen 20 Mill.), auch die markanten Publikationen lassen darauf schließen. So erschien vor kurzem bei Rowohlt das Hauptwerk des amerikanischen Gesichtsfachmanns Paul Ekman unter dem Titel Ich weiss, dass du lügst. Die Erstausgabe von 1991 hieß Telling Lies, aber dann gab es den 11. September 2001, Ekman wurde vom neu gegründeten Home-Ministry angeheuert und erweiterte seine Kompetenz um die physiognomischen Erfahrungen im Umgang mit arabischen Terroristen. Weitere Zusätze gab es 2009, nachdem die höchst erfolgreiche und von ihm beratene Fernsehserie Lie to me erstmals ausgestrahlt wurde. Ekman, der für CIA und die US Armee gearbeitet hat, gilt heute als unbestrittener Chefanalytiker physiognomischer Datensätze.
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Ebenfalls ein Hauptwerk zur Anthropologie und Psychoanalyse des Gesichts erschien soeben auf deutsch von Pierre Legendre, dem französischen Juristen und LacanSpezialisten: Gott im Spiegel. Untersuchungen zur Institution der Bilder, Turia & Kant, Wien ; ein Grundwerk zum Problem des Narzissmus. Angekündigt ist ferner ein Werk des Kunsthistorikers Hans Belting über "Gesicht und Maske". Was schließen wir aus diesem "facial turn"? Warten wir ersteinmal noch ab.
April 2011
Zu Ostern berichtete die New York Times über Gesichtsoperationen in China, einem boomenden Geschäft. Die Internationale Gesellschaft für plastische Chirurgie schätzte die Zahl der Ops im Jahr 2009 auf mehr als zwei Millionen; damit stand China nach den USA und Brasilien an dritter Stelle. Und die Zahl verdoppelt sich jährlich. In den letzten Jahren wurden Ausgaben in diesem Sektor zum viertgrößten Posten der Privatausgaben.
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Wie überall rangieren dabei Gesichtslifting und Faltenentfernung an erster Stelle, aber inzwischen steigt die Zahl der Patienten unter dreissig signifikant. Vor allem Lidoperationen und Augenvergößerung nach westlichem Vorbild sind gefragt; dann aber auch markantere Nasen, im Gegensatz zur westlichen Tradition des sogenannten "Nosejobs". Schließlich soll noch das Kinn schmaler und länger werden. Trotz bedenklicher Mängel im medizinischen Standard kommen 30 bis 40 % der operierten Patienten zurück, um weitere Eingriffe machen zu lassen. Begründet wird alles mit besseren Erfolgsaussichten im Geschäftsleben. Und bedenkt man die Rolle der Porträts in der netzbasierten Ökonomie, kann man kaum widersprechen. Das westliche, aber auch orientalische Gesicht setzt sich durch - aber wer weiss wie lange noch. Vgl. Sharon LaFraniere, For many Chinese, New Wealth and a Fresh Face, NYT April 23, 2011
Zu all diesen Entwicklungen lese man unter anderm Bernhard Poerksen und Wolfgang Krischke (Hrsg.): Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien. Halem, Köln 2010.
Zu all diesen Entwicklungen lese man unter anderm Bernhard Poerksen und Wolfgang Krischke (Hrsg.): Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien. Halem, Köln 2010.
März 2011
Es hat kein besonderes Aufsehen mehr erregt, was an der Front der kosmetischen Chirurgie im vergangenen Monat stattfand: die erste Volltransplantation eines Gesichts in den USA. Ein 25jähriger Texaner namens Dallas Wiens, der bei einem Unfall völlig entstellt worden war, erhielt im Brigham and Women's Hospital in Boston in einer 15stündigen Operation ein komplettes Gesicht, das er inzwischen auch ein wenig bewegen kann. Es ist, nach den Operationen in Spanien und Frankreich der dritte Versuch. Wie die Immunreaktion ausfallen wird, muß sich allerdings erst noch zeigen.
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Auch an anderer Stelle gibt es chirurgische Gesichtseingriffe. In einer großangelegten Forschungsreihe, von der Volkswagenstiftung finanziert, präsentiert sich die Abteilung für KinderNeurochirurgie der Berliner Charité zusammen mit dem Berliner Zentrum für Literatur - und Kulturforschung. In den kommenden drei Jahren soll die Geschichte der medizinischen wie kulturellen Schädelwahrnehmung und Schädelmanipulation reflektiert werden. Darüber wird wird weiter berichtet!
Februar 2011
Eine Ausstellung im Münchner Haus der Kunst und ein opulenter Fotoband haben Ende letzten Jahres den fazialen Diskurs denkwürdig zugespitzt. Die Ausstellung, die Anfang Februar endete, zeigte Gesichtsbilder der holländischen Malerin Marlene Dumas, kombiniert mit Werken alter Meister wie Rembrandt, Hals, van Dyk und anderen. Zusammengeführt wurden sie unter dem Titel "Tronien": einer Bildgattung vor allem aus dem 17. Jahrhundert, in der das Gesicht in einer Mittellage zwischen Musterbild, Ausdrucksstudie und Maske erscheint, also ohne Bezug auf ein lebendes Modell. So entwirft auch die Malerin Dumas Hunderte von Gesichtern meist von Frauen, und die Modelle sind unwichtig, meist steht die Miene allein im Raum und redet zum Betrachter. Hohle Vielfalt? Kann wirklich Jesus als Vera Ikon hier auftauchen - weil es einen historischen Jesus nicht gab?
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Keine Idee von Maske, keine Idee von Muster oder Ausdrucksstudie gibt es in dem Fotobildband Menschenaffen wie wir.Porträts einer Verwandtschaft von Jutta Hof und Volker Sommer. Eine Großaufnahme nach der andern präsentiert Individuen aus den vier großen Gruppen Orang Utan, Gorilla, Schimpanse und Bonobo. Jedes Gesicht gehört einem Individuum, jedes hat auch typische Züge, jedes einen emotionalen Appell. Könnten wir ohne eine solche Idee von authentischen Gesichtern überhaupt leben?
Januar 2011
Das neue Jahr beginnt mit den Verlagsvorschauen, die immer früher kommen und immer längere Jahresstrecken ankündigen. Das Hauptereignis zum ersten Januar war natürlich die Unterstützung von Facebook durch Goldman Sachs und russischer Hilfe: 500 Millionen Dollar sind zugezahlt worden, auf fast 50 Milliarden Dollar hat sich der Wert des "Gesichtsbuches" erhöht, man wartet gespannt auf den Börsengang.
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Im Kunstverlag Schirmer Mosel gibt es das begleitende Bildprogramm: Gleich drei berühmte Fotografen werden mit Porträtalben vorgestellt: über 500 Man-Ray- Portraits aus dem Centre Pompidou; der griechisch-britische Fotograf Platon mit einer Sammlung von 130 Gesichtern unter dem TItel "Power-Ein Portrait der Macht" sowie ein "Pantheon des deutschen Films" in hundert Farbtafeln von Jim Rakete. Sicher werden es nicht die letzten GesichterSammlungen in diesem Jahr bleiben, denn für den kommenden August ist im Berliner Bode Museum einen strahlende Ausstellung mit 150 Portraits der Renaissance angekündigt! Wird man, nach dem Börsengang von Facebook, nicht bald vom Facial Turn sprechen?
November/Dezember 2010
In der ersten Dezemberwoche findet in Dresden ein Kongress zur Datensicherheit im Internet statt - eines der Hauptthemen wird, laut Thomas de Maziere, dem Innenminister, die Frage der Gesichtserkennung sein. Neueste Software erlaubt ja, die Gesichter auf digitalen Porträts namentlich so zu kodieren, dass diese Gesichter im Internet sofort überall wieder erkannt und benannt werden können. Kann man das verhindern? Es ist doch, als sei ein Lasso ausgeworfen, dem niemand mehr entgehen kann, oder nur Menschen in der Dritten Welt ohne Internetanschluss.
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Umso auffälliger sind die Anstrengungen der kosmetischen Chirurgie, die inzwischen eine "Epithetik" kennt. "Epithetiker" sind kosmetische Chirurgen, welche Unfallopfern das Gesicht rekonstruieren: nach dem Vorbild von "Prothetik". Anders als die "Prothetiker", die ja auch mit nicht analogen Gliedmassen arbeiten können - also etwa einem Holzbein - müssen die Epithetiker das Gesicht so genau wie möglich rekonstruieren, bzw. verbessern. Die FAZ brachte am 1. Dezember einen Bericht über Jörn Brom, einen von 38 Epithetikern in Deutschland.
September/Oktober 2010
Die im August berichteten Rechtstreitigkeiten um das Wort "Face" haben im Oktober sozusagen ihren Höhepunkt erreicht: nämlich im Film um den Begründer von Facebook, Mark Zuckerberg. The Social Network startete am 1. Oktober und hat seither Millionen Zuschauer und Dollar eingebracht.
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Verblüffend für Facebook-Laien ist der Ursprung des Ganzen angeblich aus der Laune zweier Studenten, mit technischen Mitteln die Schönheit der Freundinnen zu evaluieren. Im Klartext: evolutionäre Ästhetik zu betreiben. Vor aller Welt möglichst schön, oder mindestens interessant zu erscheinen, sich selbst im Akt des Kommunizierens als Marke zu etablieren, ist Facebook also von Anfang an eingeschrieben. Es ist damit auch ein Sieg der ökonomischen Vernunft, die auf Wettbewerb setzt. Dass es dabei auch durchaus unredlich zugeht, ist das Thema des ganzen Films, der als Gerichtsverhandlung angelegt ist, aber mit einem Vergleich endet.
August 2010
Am 27. August berichtete der Web 2.0 Blog TechCrunch, dass die Firma Facebook im Moment versucht, den Wortbestandteil "Face" als eigenen Markennamen schützen zu lassen. "Facebook" als Kompositum ist natürlich längst geschützt. Die Marke "Face" erhielten die Betreiber angeblich ursprünglich von einer britischen Firma namens CIS Internet Ltd, die ihrerseits eine Site namens "Faceparty" betrieb.
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Wie auch immer: laut TechCrunch hat Einspruch gegen dieses Marketing Aaron Greenspan erhoben, der sich als eigentlichen Erfinder von Facebook betrachtet, damit aber juristisch unterlag. Inzwischen hat er eine eigene Firma namens Think Computer, die ihrerseits ein App für handys unter dem Namen "Face Cash" vertreibt. Face Cash! Andererseits gibt es auch bei Apple eine VideoMarke namens "Facetime"... Wie auch immer: laut TechCrunch hat Einspruch gegen dieses Marketing Aaron Greenspan erhoben, der sich als eigentlichen Erfinder von Facebook betrachtet, damit aber juristisch unterlag. Inzwischen hat er eine eigene Firma namens Think Computer, die ihrerseits ein App für handys unter dem Namen "Face Cash" vertreibt. Face Cash! Andererseits gibt es auch bei Apple eine VideoMarke namens "Facetime"...
Facebook, Faceparty, Face Cash, FaceTime: die Inflation des Wortes im Web 2.0 entspricht einer Entwicklung, die das neue Buch von Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke beschreibt. Die Casting Gesellschaft liefert schlagende Beobachtungen zum heutigen Stand der digitalen Gesellschaft. Facebook, Youtube, Flickr etc. "Ein ganzes Volk wirkt mit an der Verbreitung einer >indiskreten Technologie< (so der Soziologe Georg Cooper), die eine fortwährende wechselseitige Beobachtung und ein den Alltag durchdringendes Medientraining erlaubt. Ich trete auf, also bin ich!"
Aber ist das wirklich so neu? Hat nicht der französische Sozialphilosoph Guy Debord schon 1967 seine Sozialkritik namens La Societé de Spectacles veröffentlicht? Und fast zehn Jahre zuvor Erving Goffman den Bestseller Wir alle spielen Theater? Und hat nicht überhaupt der amerikanische Soziologe David Riesman bereits in den 50er Jahren den Begriff der "aussengeleiteten Gesellschaft" geprägt, womit er die kommende Mediengesellschaft beschrieb? Sein Buch namens The lonely crowd erschien zuerst 1950 und gilt als erster soziologischer Bestseller überhaupt. Der zweite Band von 1952 hiess dann schon Faces in the crowd.
Facebook, Faceparty, Face Cash, FaceTime: die Inflation des Wortes im Web 2.0 entspricht einer Entwicklung, die das neue Buch von Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke beschreibt. Die Casting Gesellschaft liefert schlagende Beobachtungen zum heutigen Stand der digitalen Gesellschaft. Facebook, Youtube, Flickr etc. "Ein ganzes Volk wirkt mit an der Verbreitung einer >indiskreten Technologie< (so der Soziologe Georg Cooper), die eine fortwährende wechselseitige Beobachtung und ein den Alltag durchdringendes Medientraining erlaubt. Ich trete auf, also bin ich!"
Aber ist das wirklich so neu? Hat nicht der französische Sozialphilosoph Guy Debord schon 1967 seine Sozialkritik namens La Societé de Spectacles veröffentlicht? Und fast zehn Jahre zuvor Erving Goffman den Bestseller Wir alle spielen Theater? Und hat nicht überhaupt der amerikanische Soziologe David Riesman bereits in den 50er Jahren den Begriff der "aussengeleiteten Gesellschaft" geprägt, womit er die kommende Mediengesellschaft beschrieb? Sein Buch namens The lonely crowd erschien zuerst 1950 und gilt als erster soziologischer Bestseller überhaupt. Der zweite Band von 1952 hiess dann schon Faces in the crowd.
Juli 2010
Das Wort Gesicht scheint umgangssprachlich immer mehr synonym mit dem Wort Person zu werden - Facebook machts möglich. "Gesicht zeigen" heißt seit einigen Jahren eine Kampagne gegen Fremdenhass - hier versteht man unter Gesicht allerdings den Anteil an Zivilcourage im öffentlichen Auftritt, das Hinsehen statt Wegsehen.
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In der FAS vom 25. Juli wird von den Erfolgen berichtet, die Paul Ekman (*1934), der dienstälteste Mimikforscher der scientific community, noch immer zu verzeichnen hat. Sein in den sechziger Jahren entwickeltes sogenanntes Face Action Coding System (FACS) tritt mit dem Anspruch auf, interkulturell gültige, also angebornene mimische Kundgaben gefunden zu haben, basale Gesichtsausdrücke von Wut, Freude, Überraschung, Trauer u.a. In den Jahren nach seiner Emiritierung hat sich Ekman als teurer Lügendetektor sowohl der Wirtschaft wie der Politik anempfohlen, zuletzt dem US-Homeministry mit dem Versprechen, Terroristen bei den Grenzkontrollen entlarven zu können. Die Ergebnisse sind aber unbefriedigend, und die Kollegen bezweifeln das nicht öffentlich gemachte Verfahren. Körpersprachlich nervös werden kann man im Gespräch mit Grenzkontrolleuren aus vielerlei Gründen.
Genutzt wird das FACS aber inzwischen auch von der Roboterindustrie. In den USA und n Südkorea arbeitet man an der Entwicklung sogenannter "social machines", die in der Kindererziehung eingesetzt werden und Sprachunterricht erteilen sollen. In beiden Fällen müssen sie sowohl Mimik entziffern als auch selbst produzieren können. Die wichtigste Miene im zutraulichen Umgang ist nach wie vor das Lächeln. Die entsprechende Software wurde angeblich an 70tausend Personen erarbeitet. New York Times 16. Juli 2010.
Genutzt wird das FACS aber inzwischen auch von der Roboterindustrie. In den USA und n Südkorea arbeitet man an der Entwicklung sogenannter "social machines", die in der Kindererziehung eingesetzt werden und Sprachunterricht erteilen sollen. In beiden Fällen müssen sie sowohl Mimik entziffern als auch selbst produzieren können. Die wichtigste Miene im zutraulichen Umgang ist nach wie vor das Lächeln. Die entsprechende Software wurde angeblich an 70tausend Personen erarbeitet. New York Times 16. Juli 2010.
Juni 2010
An dieser Stelle soll in Zukunft einmal im Monat der zeitgenössische Gesichterkult und die dazugehörige Gesichtslesekunst, also Physiognomik von heute, kommentiert werden. Anlass ist ein Artikel einer großen deutschen Wochenzeitung vom 10. Juni über den Kandidaten zum Amt des Bundespräsidenten, Christian Wulff. Der Text ist betitelt mit "Eine Stilkritik". Illustriert wird er nicht mit einem Porträtfoto sondern mit diversen Kleidungsstücken, die Wulff angeblich trägt. Jedes Teil ist mit einem Preis versehen; alle zusammen ergeben den Preis der Oberfläche, um die es dem Autor ausschließlich geht. Selten hat das alte Lob der Oberfläche eine so fatale Anwendung gefunden. Nichts davon soll hier zitiert werden. Denn es handelt sich um eine Textsorte aus der Weimarer Republik: um physiognomische Verhetzung.
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Uslars Text passt aber sehr gut in den nervösen, wenn nicht sogar brutalen Umgang mit dem menschlichen Gesicht, der sich seit der digitalen Kehre anbahnt. Da sind einerseits die Bestrebungen der biometrischen Identifizierung als Reaktion auf den Terrorismus. Da sind andererseits die Etüden der social networks. Facebook hat Schule gemacht; Facebook verlangt das attraktive Weltgesicht und dekonstruiert es zugleich vollständig.
Gegenbewegungen sind seit langem unterwegs, wenn auch leider in der Regel elitär. Soeben erschien z.B. ein Buch von Freddy Langer, Blind Date. 40 Schriftsteller inkognito, im Knesebeck Verlag. Der Autor hat jahrelang Schriftsteller mit Schlafbrillen fotografiert; unter dem Titel "Schlafende Geister" sind sie im Literaturarchiv Marbach zu sehen. Anders als zu Zeiten Stefan Georges, einer Hoch-Zeit physiognomischer Deutung, verhüllen die Dichter- und Künstler-Fotos mehr als sie zeigen. Und recht haben sie!
Eine andere Idee hat unlängst der Kunsthistoriker Hans Belting auf einer Tagung des Berliner Zentrums für Literaturwissenschaft vorgetragen. Nach seiner Meinung sind alle Gesichter überhaupt nur Masken, die gemalten wie die plastischen wie auch die lebenden, mit denen wir uns begegnen. Das scheint mir nun wieder übertrieben. Dass die Gesichter unserer Mitmenschen im Alltag aus Fleisch und Blut sind, dass sie verbindlich Nachrichten aller Art übermitteln, ist eine Arbeitshypothese unserer ganzen Sozialität. Hier nur Masken finden zu wollen, hat gnostische Züge, stammt aus einer kategorialen Verwechslung.
Eine ganz andere Gegenbewegung findet man auf der Website des Berliner BodeMuseums. Hier wird für 2011 eine strahlende Ausstellung mit 150 Porträts aus der Renaissance angekündigt. Jedes einzelne ist ein Meisterwerk, jedes einzelne führt eine ganze Geschichte mit sich. Nicht alle Geschichten sind so unerschöpflich wie jene der Mona Lisa, aber viele geben Rätsel auf, und bestätigen damit die Devise des mährischen Star-Physiognomikers Rudolf Kassner: "Der Mensch ist so, wie er aussieht, weil er nicht so ist, wie er aussieht".
Gegenbewegungen sind seit langem unterwegs, wenn auch leider in der Regel elitär. Soeben erschien z.B. ein Buch von Freddy Langer, Blind Date. 40 Schriftsteller inkognito, im Knesebeck Verlag. Der Autor hat jahrelang Schriftsteller mit Schlafbrillen fotografiert; unter dem Titel "Schlafende Geister" sind sie im Literaturarchiv Marbach zu sehen. Anders als zu Zeiten Stefan Georges, einer Hoch-Zeit physiognomischer Deutung, verhüllen die Dichter- und Künstler-Fotos mehr als sie zeigen. Und recht haben sie!
Eine andere Idee hat unlängst der Kunsthistoriker Hans Belting auf einer Tagung des Berliner Zentrums für Literaturwissenschaft vorgetragen. Nach seiner Meinung sind alle Gesichter überhaupt nur Masken, die gemalten wie die plastischen wie auch die lebenden, mit denen wir uns begegnen. Das scheint mir nun wieder übertrieben. Dass die Gesichter unserer Mitmenschen im Alltag aus Fleisch und Blut sind, dass sie verbindlich Nachrichten aller Art übermitteln, ist eine Arbeitshypothese unserer ganzen Sozialität. Hier nur Masken finden zu wollen, hat gnostische Züge, stammt aus einer kategorialen Verwechslung.
Eine ganz andere Gegenbewegung findet man auf der Website des Berliner BodeMuseums. Hier wird für 2011 eine strahlende Ausstellung mit 150 Porträts aus der Renaissance angekündigt. Jedes einzelne ist ein Meisterwerk, jedes einzelne führt eine ganze Geschichte mit sich. Nicht alle Geschichten sind so unerschöpflich wie jene der Mona Lisa, aber viele geben Rätsel auf, und bestätigen damit die Devise des mährischen Star-Physiognomikers Rudolf Kassner: "Der Mensch ist so, wie er aussieht, weil er nicht so ist, wie er aussieht".
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